Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
eine Klarsichthülle mit Konferenzunterlagen und einen Führer durch das College, auf dem er den kürzesten Weg zu ihren Gastzimmern eingezeichnet hatte. Bevor er ihnen die Schlüssel gab, nannte er ihnen noch den Zugangscode für die Bibliothek und die Hauptgebäude.
Der Professor nahm das Gepäck, und beide verließen das Pförtnerhaus.
Der Pförtner stieß einen Seufzer aus, sobald die Tür zu war. »Meine Güte, Blake, ich sag's dir, das geht schon den ganzen Tag so. Aus der ganzen Welt kommen sie hierher. Hab alle Hände voll zu tun! Wer hätte gedacht, dass sich so viele Leute für ein paar Bücher interessieren?«
Blake schaute aus dem Fenster. Er sah, wie sich Mephistopheles auffordernd um die Beine der holländischen Wissenschaftlerin drängte und wie sie sich schließlich zu ihm hinunterbeugte und ihn streichelte. Prosper Marchand war nirgends zu sehen. Dann aber heulte auf der Straße ein Motorrad auf und röhrte davon.
Bob war ein kleiner stämmiger Mann von Mitte fünfzig mit einer Andeutung von Schnurrbart unter der Nase. Seine Hemdärmel waren aufgerollt und enthüllten auf einem Handgelenk ein Drachen-Tattoo und auf dem anderen einen spinatgrünen Anker. Grinsend rieb er sich die Hände. »Nun, Blake, was kann ich für dich tun?«
Blake warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Postfächer hinter dem Tresen. »Ist ein Brief für mich da?«, fragte er, plötzlich zaghaft und schüchtern.
Wenn auch sein Vater nie vergaß, jeden Abend anzurufen, wollte Blake doch einen Brief bekommen, etwas Persönliches, Geschriebenes, eine Hilfe sozusagen, um mit der gegenwärtigen Lage fertigzuwerden. Seine Eltern sprachen kaum miteinander, und er brauchte die Zusicherung, dass alles wieder in die Reihe kommen, eine Garantie, dass alles wieder gut werden würde.
Der Pförtner schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. »Glaube nicht, dass einer da ist, aber man weiß ja nie. Kann jedenfalls nicht schaden, wenn ich noch mal nachsehe.«
Während Bob sich hinunterbeugte zu dem Fach, das vorübergehend »Dr. Juliet Winters und Familie« zugewiesen war, las Blake die Schilder an den Koffern bei der Tür: Australien, Indien, Russland, Japan ... Menschen aus aller Welt kamen scharenweise zu dieser Zusammenkunft hierher ins College, und sein Vater - der einzige Mensch, den er wirklich sehen wollte — war Tausende von Meilen entfernt. Das war unfair. Eine richtige Familie würden sie ohne Dad nie sein.
»Man soll's doch nicht glauben«, sagte Bob und richtete sich ruckartig wie eine Marionette auf. »Da ist tatsächlich was für dich. Wie ist denn das hierher gekommen?«
Er zwinkerte dem Jungen zu, und Blakes Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er griff nach dem Brief.
Fast auf den ersten Blick erkannte er, dass er nicht von zu Hause sein konnte. Auf dem Umschlag fehlten die Streifen der Luftpostkennzeichen, und die Schrift sah weiblich aus und war viel zu ordentlich. Christopher Winters hatte als Grafik-Designer eine unverwechselbare Schrift, deren Buchstaben Blake immer an eine Parade von Zirkustieren erinnerten: Dads J schwenkte den Rüssel wie ein Elefant, und sein Q hockte wie eine dicke Eule auf einem Ast. Was er anfasste, wurde zum Kunstwerk.
Blake runzelte die Stirn. Dieser Brief hier war an »Dr. Juliet Somers und Kind« adressiert und schien eine Einladung zu einer formellen Verpflichtung zu sein.
»Nicht das, was du wolltest, eh?«, sagte Bob, der den enttäuschten Ausdruck auf seinem Gesicht richtig deutete.
Blake gab keine Antwort, er schluckte schwer. Es überraschte ihn weniger, dass auf dem Umschlag nur von einem Kind die Rede war - da kam nur Duck in Frage -, aber es machte ihn betroffen, dass seine Mutter hier in Oxford ihren Mädchennamen benutzte. Erst überlegte er, ob es vielleicht ein Versehen sein könnte, aber tief im Innern wusste er, dass sie es anscheinend so lieber hatte.
Er sah den Pförtner an. »Nein, nicht wirklich. Aber vielleicht kommt morgen einer«, sagte er und brachte fast ein Lächeln zustande.
Drei
s ist eine Erinnerung an das Essen heute Abend«, sagte Juliet Winters, als sie den Brief geöffnet hatte. »Ihr beide seid mit eingeladen. Und offenbar ist Sir Giles Bentley der Ehrengast.« Duck sprang voraus, sie freute sich auf die Gelegenheit, vor den College-Professoren glänzen zu können. Blake aber trabte unlustig hinter seiner Mutter her. Er hatte keine Lust, zu einem langweiligen Abendessen zu gehen und lauter Erwachsene zu treffen, die entweder
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