Endzeit
benehmen?«, zische ich. »Bethany ist sechzehn. Sie ist noch ein Kind. Ein verstörtes Kind.«
»Aber sie hat ihre eigene Mutter umgebracht, oder?«, kontert das Mädchen. Das Kruzifix um ihren Hals blitzt mir entgegen. »Und wegen ihr passiert das alles.«
»Nein, das stimmt nicht. Sie ist aus gutem Grund hier.«
»Ist sie nicht«, sagt das Mädchen und schaut mich mit der selbstgerechten Verachtung an, die sich nur ein Teenager leisten kann.
|371| »Woher willst du das wissen?«, zische ich. Meine Nerven liegen blank, ich könnte schreien.
»Weil ich auch sechzehn bin. Ich habe ihren Gesichtsausdruck gesehen. Die verarscht Sie doch.«
»Komm«, drängt Frazer Melville. »Wir dürfen sie nicht verlieren.«
Er greift nach meinem Rollstuhl und schiebt mich ruckartig nach vorn. Unsere Ordner haben alle Hände voll zu tun, um uns einen Weg durch die Menge zu bahnen. Frazer Melville schiebt mich durch den Strom der Körper, der durch den Vorhang aus Plastikstreifen wogt. Es ist, als würde man durch einen Filter in den höhlenartigen Magen eines Wals gesogen. Ich spüre die unglaubliche Menge von Fleisch und Molekülen um mich herum und wie unbedeutend ich in diesem ungeheuren Gedränge bin.
»Sie ist da vorn«, ruft Frazer Melville und beugt sich vor, damit ich ihn hören kann. »Ich kann sie sehen. Wir werden sie hoffentlich irgendwie einholen.«
Obwohl das Stadion nach den Olympischen Spielen zurückgebaut wurde, wirkt es immer noch unermesslich groß, viel zu groß für ein Augenpaar. Das hintere Ende ist nicht beleuchtet. Es wirkt, als beträte man eine dunkle Höhle durch einen erleuchteten Schlund. An der vorderen Seite befindet sich die Bühne, eine weiße, von Flutlicht angestrahlte Scheibe, deren Mitte eine riesige Fontäne aus blendend weißen Lilien beherrscht. Woher kommt diese spektakuläre Dekoration? Wer hat sie so kurzfristig besorgt? Hinter den Mikrofonen stehen stufenartig angeordnete weiße Blöcke, die offenbar für einen Chor gedacht sind. Das Aufwärmteam ist noch bei der Arbeit, doch die Prediger haben sich aufgeteilt und sprechen nun von den Rändern der Bühne jeweils einen Teil der Zuschauer an. Vielleicht hat es mit der veränderten emotionalen Atmosphäre zu tun. Unsere Ordner bleiben stehen und diskutieren hastig, sodass ich die Sitzreihen in Ruhe nach Bethany absuchen kann. Keine Spur von ihr. Wir sind auf allen Seiten von Leuten umgeben, manche sitzen, andere gehen durch |372| die breiten Gänge. Schon vor meinem Unfall habe ich mich in großen Menschenmengen unwohl gefühlt und immer eine Gefahr gespürt, die von ihnen ausgeht. Mich überläuft ein Schauder, und ich merke, wie Frazer Melville meine Schulter drückt. Braucht er mich ebenso sehr wie ich ihn? Ich lege den Kopf in den Nacken, und er beugt sich zu mir und küsst mich fest auf den Mund. Dann stößt ihn jemand an, und er löst sich von mir, sodass mir nur sein Geschmack bleibt.
»Da entlang«, sagt die Ordnerin und deutet auf eine Sitzreihe vorn an der Bühne. »Hier bleiben Sie«, befiehlt sie ausdruckslos. Frazer Melville setzt sich ans Ende der Reihe und ich mich daneben in den Gang, während sie über ihr Headset mit jemandem spricht. Ich horche angestrengt. »Ja, Reverend. So wie ich es verstehe, Sir, ja … Sie hat Matthäus zitiert. Vergebung …« Wie aus heiterem Himmel tritt ein Lächeln auf ihr Gesicht, dessen Schönheit mich überrascht. »Sie müssen nur das Zeichen geben … Natürlich werden wir das, Sir … Gott schütze Sie und Ihre Familie, Sir. Wir sehen uns wieder in Gottes Königreich.« Frazer Melvilles Aufpasser scheint verschwunden zu sein, doch kurz darauf entdecke ich ihn auf der anderen Seite des Stadions, wo er Leute in die oberen Sitzreihen einweist. Die größten Gruppen versammeln sich jedoch zu ebener Erde. Und hier, unmittelbar um uns herum, ist auch das Unbehagen greifbar. Manche Leute geraten in Panik, drängen an gegen die Flut derer, die das Stadion betreten, sodass eine hysterische Gegenströmung entsteht. Andere knien mit geschlossenen Augen, ins Gebet vertieft. Eine blondierte Frau im rosa Bademantel ist auf einen riesigen Lautsprecher geklettert und bewegt den Mund, betet oder flucht, jedenfalls spricht sie unverständlich und ungeheuer schnell. Sie hält eine Art Bündel in die Höhe, als wolle sie die schmutzigen Blumenkohlwolken anflehen, die den Himmel bedecken. Ihr Mann brüllt: »Komm runter, Trish, Scheiße noch mal!« Er könnte ebenso gut Chinesisch
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