Endzeit
»Euer großer Tag ist gekommen!«, |364| krächzt sie heiser. »Bereit für die Entrückung?« Dann bricht sie in hässliches Gelächter aus.
In diesem Augenblick wird mir klar, dass er sie erkannt hat. Er reißt sich von ihr los und rennt zwischen den parkenden Autos hindurch, während er in sein Mikrofon brüllt.
»Danke vielmals, Bethany«, seufzt Frazer Melville. »Einen Plan B haben wir wohl nicht.«
Das stimmt. Von überallher kommen gelb gekleidete Ordner gelaufen, wir können nicht weg. Vor allem ich nicht mit meinem Rollstuhl, keine Chance.
»Wie lange haben wir noch, falls das ein Vorbeben war?«, frage ich mit erzwungener Ruhe. Meine Beine kribbeln von tausend Nadelstichen.
»Kann ich nicht sagen. Höchstens eine Stunde, schätze ich. Es hat die Geschwindigkeit eines Jumbojets.« Seine Stimme klingt ruhig und gelassen, beinah tröstlich. »Angesichts der Struktur der Hydratschicht und des Unterbodens dürfte der nächste Erdrutsch verheerend sein. Die Geschwindigkeit, mit der sich ein Tsunami ausbreitet, errechnet sich aus der Wurzel des Produktes von Erdbeschleunigung und Wassertiefe.«
Ich schlucke. Meine Kehle ist wie ausgedörrt. »Sagt ein Physiker so Lebwohl?«
Er schließt die Augen und schweigt. Ich spüre, wie ein langes, verzweifeltes Heulen in mir aufsteigt. Sekunden später haben fünf Ordner unseren Wagen umzingelt. Von hinten ruft eine hohe, schrille Frauenstimme: »Da drüben, in dem grauen Nissan! Das ist das Mädchen, das gesucht wird! Bethany Krall! Sie hat den Teufel im Leib, das habe ich im Fernsehen gesehen!«
Eine Menschenmenge hat sich um den Wagen geschart, vor allem Männer, und ihr Gesichtsausdruck reicht von Furcht über Ungläubigkeit bis hin zu Drohung und Zorn. Manche beschimpfen uns. Rasch verriegele ich die Türen. Angst drückt mir die Kehle zu. Ich will schlucken, kann es aber nicht. Frazer Melville starrt unverwandt geradeaus. »Hier entlang!«, ruft jemand. Weitere |365| Gesichter drängen heran, jemand liegt quer über der Windschutzscheibe. Hände hämmern aufs Dach, man brüllt, wir sollen die Türen öffnen. »Hier! Das Mädchen ist im Auto!« – »Bethany Krall.« – »Die Tochter von Leonard Krall. Die entführt wurde.« Wie aus dem Nichts taucht ein hochgewachsener Wachmann mit breitem, gut aussehendem Gesicht auf und winkt die Zuschauer vom Wagen weg. Sie weichen zögernd zurück. Der Wachmann stellt sich auf den freien Parkplatz neben uns, die Beine gespreizt, die Arme verschränkt, sieht uns aber nicht an. Er scheint auf Verstärkung zu warten. Er wirkt selbstsicher und professionell, ein Mann, der seine Arbeit gern und gut macht. Bethany ignoriert ihn. Sie hat die Finger über ihrem stoppeligen Kopf verschränkt und wiegt sich hin und her wie ein verzweifeltes, in seinem Gitterbett gefangenes Baby. Auf Gesicht und Nacken glänzen Schweißperlen.
Frazer Melville atmet resigniert aus.
»Es war eine Grube«, murmelt Bethany und streckt sich, hält ihren Kopf aber immer noch umklammert. Die Verträumtheit in ihrer Stimme lässt mich aufhorchen. »Sie warfen ihn hinein und legten einen Stein darüber und versiegelten ihn mit Wachs.«
»Was redest du da?«
»Daniel. Sie warfen ihn in die Grube zu den Löwen. Doch am nächsten Morgen war er noch am Leben.«
Mein Herz hämmert schnell. Zu schnell. Ich presse die Hand auf die Brust, um es zu beruhigen. Ich muss ihre Worte entschlüsseln. »Wieso, Bethany? Wieso haben ihn die Löwen nicht gefressen?«
Sie lächelt beinahe träge. »Weil sie keinen Hunger auf Fleisch hatten.«
Ich bemerke, wie die Leute draußen einem Mann Platz machen. Er ist um die fünfzig, mit silbergrauem Haar, trägt einen dunklen Anzug. Er verströmt Autorität. Vermutlich ein offizieller Vertreter des Stadions oder ein Prediger. Er wird von vier oder fünf jungen Männern, Schwarzen und Asiaten, in nüchternen Anzügen |366| und bunten Krawatten begleitet. »Wieso hatten sie keinen Hunger auf Fleisch, Bethany?«
»Ich nehme an, sie wollten etwas anderes. Etwas, das man nicht essen kann.«
Ich beobachte den Mann noch immer. Ein Prediger, da bin ich sicher. Nach einem kurzen Gespräch mit Calum, der in unsere Richtung zeigt und hektisch seine Geschichte vorträgt, zögert er einen Augenblick. Dann befragt er den Wachmann, wobei er auf unser Auto deutet.
Ich sehe Bethany eindringlich an. »Was wollten die Löwen denn dann?«
Achselzucken. »Sie waren alle in einer Grube gefangen. Daniel war gefangen, die Tiere aber auch. Was
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