Endzeit
sprechen.
»Wo ist Bethany?«, frage ich die Ordnerin.
|373| »Wir kümmern uns um sie.«
»Sie will zu ihrem Vater! Darum sind wir hier!«
»Keine Sorge. Alles bestens. Sie ist schon auf dem Weg zu ihm.«
Frazer Melville und ich sehen uns niedergeschlagen an. Noch nie habe ich mich so hilflos gefühlt.
»Willkommen, Leute!« Ein junger, energischer Prediger, dessen Weg von einem Scheinwerfer begleitet wird, ist vor uns an den Rand der Bühne getreten, die Hände erhoben, das weißblonde Haar von hinten beleuchtet. Jenseits der Bühne ist alles in Schwärze getaucht.
»Schwere Zeiten – vielleicht die schwersten, die die Menschheit jemals erlebt hat – werden die Küsten unseres Landes heimsuchen.« Seine Stimme vibriert gefühlvoll. »Die Bibel und unsere Ältesten bestätigen, dass wir uns nun an der Schwelle zur Endzeit befinden.« Man hört erregte Schreie und heiseres Gebrüll. An einem seiner Schuhe klebt ein weißes Lilienblatt, was mir aus unerfindlichen Gründen die Tränen in die Augen treibt. Ich stelle mir die riesigen Treibhäuser vor, in denen diese Blumen zur Blüte gezwungen wurden, die Reihen der Hydrokulturen, das grelle künstliche Licht, so hell, dass die Arbeiter Sonnenbrillen tragen müssen. Lauter Menschen, die ihren Lebensunterhalt verdienen, Menschen mit Leidenschaften, Autos, Jogginganzügen, Allergien, Geliebten, Kindern, Lieblingsmüslis. »Mögen alle umkehren und zum Herrn finden! Allein darum geht es bei der Entrückung! Die Rettung! Die Erlösung! Ich glaube daran. Glaubt auch ihr daran?«
Die Zustimmung schwillt an: Pfiffe, Halleluja-Rufe und anfeuerndes Geschrei. Ein verrückter Gedanke –
Was, wenn sie recht haben?
– sprießt in meinem Kopf. Ich bemerke, wie die rosa gekleidete Frau auf dem Lautsprecher etwas schreit und ihr Bündel wie eine Opfergabe zum Himmel streckt. Erst da erkenne ich, dass es sich um ein Baby handelt.
Von hinten höre ich Wörter wie »ermordet«, »entführt«, »Teu fel « und »vor der Trübsal«.
|374| Genau wie ich sucht Frazer Melville das Stadion mit den Augen ab. Noch immer ist nichts von Bethany zu sehen. Ich drücke seine Hand. Wir sehen einander an und tauschen eine tiefe, intime Botschaft aus. Ein Gefühl, an dem es keinen Zweifel gibt. Ein Wissen, bei dem sich mein Herz sonst vor Seligkeit und nicht vor Schmerz verkrampfen würde.
Cuando te tengo a ti, vida, cuanto te quiero.
Doch wir kreisen im Abwärtsstrudel.
Als Kristin Jonsdottir und Harish Modak mir im Bauernhaus die Phasen einer beschleunigten Klimakatastrophe erklärten, klang es zu theoretisch, um beängstigend zu sein. Nun aber sitzt mir das Wissen tief in den Eingeweiden. Draußen auf dem Meer folgen dem Ruck, der Buried Hope Alpha bis in die Grundfesten erschütterte, weitere heftige Stöße. Schiffe werden hinabgesogen, Unterseekabel zerstört. Der Meeresboden explodiert, gibt nach, Tonnen von Sedimenten stürzen in einem zweiten Beben hinab. Die erste Riesenwelle wird ausgelöst, baut sich auf und schlägt über dem Land zusammen. Dann der Domino-Effekt. Ein unterseeischer Erdrutsch führt zum nächsten, Millionen Tonnen eingeschlossener Hydrate werden freigesetzt. Eine zerstörerische Kette von Tsunamis fegt durch die miteinander verbundenen Ozeane. Überall wird Methan freigesetzt, das seit Jahrmillionen begraben lag, steigt donnernd an die Oberfläche und gerät beim Kontakt mit Sauerstoff in Brand. Der Ozean steht in Flammen, das Gas pulsiert nach oben in die Atmosphäre. Während die Tage und Wochen vergehen, werden Luft und Wasser immer heißer. Die Hitze macht weitere Hydratfelder instabil, bis Kontinent um Kontinent und Meer um Meer von der Raserei ergriffen werden. Aus diesem Teufelskreis erwächst innerhalb weniger Monate und Jahre eine Welt, in der das grelle Licht der Sonne den Planeten förmlich brät. Das Klima läuft Amok. Gletscher schmelzen, die erwärmten Ozeane dehnen sich aus und ertränken Küsten, Städte und Wälder, die vom Druck des Salzwassers und der mineralischen Gischt zermalmt werden und unter einer tiefblauen Oberfläche versinken, auf der die herzzerreißenden |375| Überreste menschlichen Unternehmungsgeistes schwimmen: Lockenwickler, Ölfässer, Kondome, Wasserflaschen, Barbiepuppen in sexy Kleidern.
Wie um meine aufsteigende Panik zu bekämpfen, hat sich eine sanfte Musik in das Tohuwabohu gemischt, die verlockend und betäubend zugleich klingt. Von überallher füllt sich die Bühne mit Chormitgliedern in langen weißen
Weitere Kostenlose Bücher