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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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Gewändern.
    Frazer Melville hat seine große Hand auf meiner Schulter, und ich lege trostsuchend meine Wange darauf. Links und rechts von uns erwachen riesige Bildschirme zum Leben. Man sieht das Stadion von oben, das eine Ende in Dunkelheit getaucht, hell schimmernd wie ein Halbmond. Nahaufnahmen des Publikums. Den Chor aus verschiedenen Perspektiven. Die strahlenden Gesichter der weiß gekleideten Prediger. Dann nehmen die Chorsänger ihre Plätze auf den Blöcken ein, und ich entdecke ein bekanntes Gesicht.
    »Sieh nur«, sage ich und deute auf Joy McConey, die in einer Art VI P-Bereich sitzt, nur hundert Meter von uns entfernt. Sie trägt ein fließendes weißes Gewand. Ihre Augen sind geschlossen, als wäre sie tief in Meditation oder ins Gebet versunken. Sie hält eine Kerze in der Hand. Ihr hellrotes Haar, das mit einer einzelnen Lilienblüte geschmückt ist, schimmert im Licht. Ein zerbrechliches, verblassendes Wesen im Totenhemd. Mein Herz ist von Mitleid erfüllt. Ich frage mich, wo ihre Kinder sind. Von ihnen und dem Ehemann ist nichts zu sehen.
    Auf ein unsichtbares Signal hin drehen sich die fünf Prediger zum Chor und beginnen rhythmisch zu klatschen. Das Publikum stimmt ein, während die Musik anschwillt und wie Wasser um uns wogt. Zuerst summt der Chor nur, die Männerstimmen tief, die der Frauen klar und warm. Es ist so beruhigend und schön wie Morphium. Auf den Bildschirmen kann man ihre Augen und die singenden Münder sehen. Erst als der Text hinzukommt, erkenne ich das Lied.
    |376|
Willst du frei sein von der Sünde Last?
    Die Kraft liegt im Blut, die Kraft liegt im Blut.
    Willst du über das Böse siegen?
    Es liegt wunderbare Kraft im Blut   …
    Bethany hat es im Auto gesungen. Die ältere Frau neben uns stimmt in einem hohen, zitternden Vibrato ein, und ich erinnere mich an den Gottesdienst in Feniton Acres: das Gefühl, dazuzugehören, ein gemeinsames Ziel zu haben, mit guten Menschen zusammen zu sein – die verführerische Kraft des Glaubens. Die Musik sprudelt und gleitet dahin und schwillt an, eine reine, organische Umarmung. Die Menschen um mich herum wiegen sich und klatschen. Auch ich möchte vor dem Abgrund gerettet werden. Zumindest daran glauben, dass es möglich ist. Ich sehe auf die Uhr. Wo ist Bethany? Wo bleibt der Hubschrauber?
Glaube
, sage ich mir.
    Die alte Dame neben mir hört auf zu singen und wendet sich abrupt zu mir. Ihre Augen fließen über vor Freude. »Ja, meine Liebe. Glauben Sie! Glauben Sie an ihn, und Sie werden in das Königreich eintreten!«
    Willst du Jesus, deinem König, dienen?
    Die Kraft liegt im Blut, die Kraft liegt im Blut.
    Willst täglich du sein Loblied singen?
    Es liegt wunderbare Kraft im Blut.
    Als die Musik in einem Crescendo endet und verklingt, in Applaus und Gejohle untergeht, bemerke ich einen neuen, auffordernden Ton, der sich in den Lärm mischt. Köpfe drehen sich herum. Fast hätte ich Leonard Krall nicht erkannt, als er schwungvoll durch den Gang in unserer Nähe läuft und die Bühne betritt. Wie die anderen Prediger ist auch er ganz in Weiß gekleidet und trägt ein unauffälliges Headset. Die Leute strecken die Arme aus und jauchzen, als er die Hände grüßend zum Himmel hebt. Sein gut |377| aussehendes, ehrliches Gesicht ist auf allen Bildschirmen. Zehn gigantische Leonard Kralls, alle voller Energie und Glaubenskraft. Wenn heute jemand Kraft im Blut hat, dann dieser Mann.
    »Willkommen im Tempel des Lobpreisens, willkommen am größten Tag unseres Lebens!« Seine Stimme hallt durch die riesige Arena und in die dunkle Luft empor. Die Gläubigen jubeln und schwenken die Arme. Es entsteht ein hektisches Durcheinander, ein Wirrwarr aus fröhlichem Gelächter. Wieder überkommt mich der Neid.
Könnte ich nur.
    »Die Entrückung steht bevor, gelobt sei der Herr!« Er besitzt echtes Showtalent. Die eindrucksvolle Gestalt, die selbstsichere Körpersprache, die ansteckende Energie, die unerschütterliche Überzeugung. Der harte Kern klatscht und pfeift. Anderswo aber beginne ich eine leisere und sorgenvollere Reaktion zu spüren. »Dieser Tag ist ein Tag wie kein anderer!«, verkündet Krall. »Dies ist ein Tag der Freude, der Tag, auf den die wahren Christen gewartet und um den sie gebetet haben. Erinnert euch, was Jesus uns versprochen hat:
Dieweil du hast bewahrt das Wort meiner Geduld, will ich auch dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die da wohnen auf

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