Engel der Kindheit
und Philipp. Das Fachwerkhaus der Johles war neu. Zwischen den dunklen Holzbalken war es weiß verputzt, alles war in makellosem Zustand, während das alte Fachwerkhaus von Nils Eltern baufällig war, das ehemalige Weiß des Putzes verdreckt und heruntergekommen, ebenso wie das herunterhängende, morsche Gartentor, das quietschte und ächzte, als Nils es öffnete.
Wie immer erwartete ihn seine Mutter zum Mittagessen, das sie gemeinsam einnahmen, nur saß diesmal eine streng blickende, jüngere Frau in einem dunkelblauen Hosenanzug mit am Küchentisch. Gewissenhaft hatte sie die Haare aus dem Gesicht gekämmt und zu einem kunstvollen Knoten am Hinterkopf geschwungen.
Auf dem Gesicht seiner Mutter sah er Spuren von Tränen, die Augen gerötet und geschwollen.
„Hallo, Nils, ich bin Sabine Gärtner!“ Als sie ihn sah, erhob sie sich und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich komme vom Jugendamt! Du brauchst keine Angst vor mir zu haben!“ Unnatürlich verzog sie den Mund zu einem Lächeln, Nils hatte das Gefühl, wie wenn sie es nicht ehrlich meinte. Gehemmt antwortete er nichts, wartete ab, was weiter geschehen würde. „Nils, lässt du mich bitte einmal deinen Rücken und Bauch sehen?“ Gekünstelt klang ihre hohe Stimme.
„Weshalb?“ Abwehrend stand Nils mit weitaufgerissenen Augen in der Küche, die Hände abweisend von sich streckend.
„Bitte, Nils! Ich weiß, dass dein Vater dich geschlagen hat! Zeig mir bitte deinen Rücken und den Bauch!“
Verängstigt sah Nils zu seiner Mutter, die die Hand vor den Mund hielt und unter Tränen nickte.
Langsam und zögernd schlüpfte er aus seinem T-Shirt.
Erschrocken hielt Frau Gärtner die Luft an, als sie Nils Rücken sah, der übersät war mit blutunterlaufenen violettblauen Striemen.
„Ist gut, Nils, du kannst dein T-Shirt wieder überziehen!“ Entsetzt sah sie zu Nils Mutter. „Frau Keller! Sie sagten, es wäre halb so schlimm gewesen!“ Tadelnd fuhr Frau Gärtner seine Mutter an. „Wenn ich den Rücken Ihres Sohnes sehe, war es mehr als das! Ich werde mit Ihrem Mann sprechen! So kann es nicht weitergehen! Wann kommt er zurück?“
„Um halb Sieben!“ Schluchzend nannte Frau Keller die Zeit, in der ihr Mann voraussichtlich nach Hause kommen würde. Jeden Tag ging er morgens, zur gleichen Zeit wie früher, aus dem Haus und kam zur Essenszeit am Abend zurück, allerdings meistens sturzbetrunken. Den ganzen Tag verbrachte er in einer Kneipe am Hafen, mit Arbeitern seiner früheren Firma, die ebenfalls arbeitslos geworden waren.
Bald darauf verabschiedete Frau Gärtner sich.
Schluchzend brach Nils Mutter am Küchentisch zusammen. Den Kopf barg sie in den verschränkten Armen. Laut jammerte sie, was ihr Mann ihr nur angetan hatte, sie würden ihr den Sohn wegnehmen!
Verständnislos stand Nils vor seiner Mutter und wusste nicht, was das zu bedeuten hatte und was er nun tun sollte. Zaghaft legte er seine kleine Hand auf den zuckenden Rücken, wie Lena es gestern Abend bei ihm getan hatte. Es hatte so gut getan!
Nach langer Zeit beruhigte sich seine Mutter und trug das Essen auf den alten Holztisch. Wortlos holte Nils die weißen Teller mit den abgeschlagenen Kanten und das teilweise rostige Besteck. Still löffelten sie den Gemüseeintopf, zu dem sie eine Scheibe des selbstgebackenen Bauernbrotes aßen.
Nach dem Mittagessen räumte er seinen Teller in den grauweiß gesprenkelten Spülstein, machte eilig seine Hausaufgaben um endlich mit seinem alten Fahrrad zum Hamburger Hafen, in die Werft, fahren zu können. In knapp einer halben Stunde legte er die Fahrt, die ihn durch das Ende des Alten Landes führte, zurück. Wunderschön hergerichtete Fachwerkhäuser, neben denen das Haus seiner Eltern geradezu verwahrlost aussah, und Mengen von Apfelbäumen, an denen kleine rotbäckige Äpfel hingen, die unter den saftigen Blätter geschützt waren, säumten seinen Weg. Unzählige Brücken überquerte er, bis er an der Werft, die am Westkai des Hamburger Hafens lag, ankam.
Hier lebte er! Die Schiffe, das war sein Leben! Später würde er selbst Schiffe konstruieren! Segelschiffe, oder Jachten! Es gab nichts Schöneres als Segelschiffe! Vor einem Monat war ein Fünfmaster in den Hamburger Hafen eingelaufen, während er hier in der Werft geholfen hatte. Niemals zuvor hatte er etwas Schöneres gesehen, als dieses stolze Schiff! Johlend hatten die Matrosen ihn gegrüßt, hatten ihm zugerufen, er solle mitkommen! Wenn er das nur könnte!
„Hallo, Nils! Auf
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