Engel der Kindheit
Küche, in deren Mitte ein alter, schwerer Eichentisch mit klobigen Stühlen stand.
„Nils, Junge, komm herein, dein Vater schläft noch!“ Mitfühlend zog seine Mutter ihn in ihre Arme. Traurig schmiegte er seinen Kopf an ihren weichen Bauch, der von einer geblümten Küchenschürze bedeckt war. „Mein armer Junge!“ Nachdenklich verharrten sie so eine Zeitlang, er spürte die Mutlosigkeit und die Verzweiflung seiner Mutter, bis sie ein Geräusch aus dem oberen Stockwerk vernahmen. „Schnell, iss etwas, bevor er kommt!“
Das grobgeschnittene Bauernbrot stand in einem geflochtenen Weidenkorb auf dem dunklen Holztisch, ein Holzbrett und ein Messer lagen an Nils Platz. Dort setzte er sich auf den breiten Stuhl, geschwind bestrich er sich das Brot mit Butter und Honig und biss hungrig hinein. Ein Glas mit frischer Milch stellte seine Mutter vor ihn hin. Gierig trank er einen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken die Reste der Milch an seiner schmalen Oberlippe ab.
Polternd kam sein Vater die Treppe herunter. Sofort sprang Nils auf, das angebissene Brot in seiner Hand, versteckte sich hinter der Türe und witschte aus der Küche, während sein Vater ihm den Rücken zudrehte.
Rasch sprang er über die morsche Holztreppe in sein kleines Zimmer, tauschte seine ältere, verschmutzte Jeans gegen eine neuere, wechselte das T-Shirt und putze sich im Bad die Zähne. Es war nur ein kleines, altmodisches Badezimmer mit dottergelben Fliesen, indem eine freistehende Zinkwanne stand. Über dieser hing ein mit Holz anzufeuernder Warmwasserboiler. Aus dem gebogenen Wasserhahn, an einem zerschundenen Emailwaschbecken, tropfte eiskaltes Wasser in einem kleinen Rinnsal, aber zum Waschen reichte es. Kurz besprenkelte er sein Gesicht, fuhr sich mit seinen feuchten Händen durch sein langes, ungeschnittenes Haar und spülte sich den Mund mit dem wenigen Wasser aus.
Solange sein Vater beim Frühstück saß, verschwand er hinter dessen Rücken über den dunklen Flur in die feuchte Morgenlandschaft, seinen alten Lederschulranzen auf dem schmerzenden Rücken.
Mucksmäuschenstill schlüpfte Lena unter ihre kalte Decke in das Bett und stellte sich schlafend. An ihren Füßen hingen die geschnittenen Grashalme, die sich durch den Morgentau daran geklebt hatten.
„Engelchen, aufstehen, guten Morgen!“ Liebevoll öffnete ihre Mutter die Türe, trat ein, schob den schneeweißen, luftigen Vorhang zur Seite und öffnete die zweiflüglige Terrassentüre und die angelehnten Fensterläden, um die herrlichen ersten Sonnenstrahlen des Morgens hereinzulassen.
„Was für ein herrlicher Morgen! Sommer ist doch die schönste Jahreszeit, findest du nicht?“ Nicht wie sonst Fröhlichkeit, sondern Kummer, hörte Lena in ihrer Stimme. Bedrückt stand ihre Mutter am Fenster und blickte sorgenvoll auf das Haus des Nachbargrundstücks. Lange hatten Georg und sie gestern Abend darüber gestritten, ob sie nun endlich das Jugendamt einschalten sollten oder nicht. Wie so oft hatten sie gehört, wie Herr Keller den armen Nils angeschrien hatte, sie meinten die Schläge zu hören, die der arme Junge zu spüren bekam, wenn sein Vater zu viel getrunken hatte. Nicht nur einmal war sie am Tag darauf, nachdem Herr Keller das Haus verlassen hatte, zu Frau Keller gegangen und hatte sie angefleht, doch zusammen mit ihrem Sohn ihren Mann zu verlassen und in ein Frauenhaus zu gehen. Geld hatte sie ihr angeboten, als Unterstützung für die erste Zeit, aber Frau Keller nahm ihren Mann in Schutz, begründete sein Verhalten mit seiner andauernden Arbeitslosigkeit, und dass sie ihn in solch schwierigen Zeiten nicht alleine lassen konnte. Georg war der Meinung, dass sie handeln sollten, bevor dem Jungen noch mehr geschah. Sie selbst war ja auch dieser Meinung, aber was sollte aus dem Jungen werden, wenn er in ein Heim eingewiesen wurde? War das besser, als bei der liebenden Mutter zu sein? Ganz bestimmt nicht!
So sehr hatten sie sich gestritten, dass Georg zum ersten Mal in ihrer zehnjährigen Ehe in seinen Praxisräumen geschlafen hatte. Diesmal hatte er nicht nachgegeben. Von seinem festen Entschluss, heute Morgen das Jugendamt zu verständigen, hatte er sich nicht abbringen lassen. Krampfhaft hatte sie ihn zurückhalten müssen, dass er nicht am Abend noch zu den Kellers gegangen war, was zweifelsohne in einer Schlägerei geendet hätte. Der arme Nils! Er war so ein netter Junge, mit seinem waldhonigbraunen, längeren Haar und den wunderschönen meerblauen Augen,
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