Engel der Schuld Roman
Fernsehinterview so oft gesehen, daß er den Klang ihrer Stimme kannte, ihren Tonfall, das Kornblumenblau ihrer Augen. Er wußte, daß sie sich selbst die Schuld gab, weil sie an jenem Abend nicht dagewesen war, um Josh abzuholen. Er hatte den Schmerz in ihrem Gesicht gesehen, die Verwirrung in ihrer Stimme gehört. Sie hatte ein vollkommenes Leben gehabt, und plötzlich war alles um sie herum zerbrochen.
Und er wollte ein Buch darüber schreiben.
Das hübsche, zerbrechliche Lächeln erstarrte, ihr Blick glitt zu ihrem Freund, Pater Tom.
»Ich hielt es für wichtig«, sagte er lediglich.
»Ich bin kein Reporter, Ma'am«, sagte Jay.
Hannah schob ihr Kinn vor, sah ihn kühl an. »Ich weiß, was Sie sind, Mister Brooks. Kommen Sie rein«, sagte sie. Sie dirigierte die Besucher nicht ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief und Spielzeug auf dem Boden verstreut war, sondern in ein unpersönliches Speisezimmer, das sicher seit Weihnachten nicht mehr benutzt worden war. Sie hielt ihn von ihrem wirklichen Zuhause fern, von ihren Kindern. Jay akzeptierte die subtile Abfuhr als Teil des allgemeinen Bildes, als Teil der ganzen Geschichte, als Teil dessen, was Hannah Garrison war.
Sie nahm den Platz am Kopfende des Tisches ein. Sie sah zwar aus, als sei sie krank gewesen – dünn, blaß, mit dunklen Ringen unter den Augen – , aber ihre Haltung war die einer Königin. Ihr welliges blondes Haar war zurückgekämmt und betonte das feingeschnittene Gesicht, ein Gesicht von der Art, mit der Models viel Geld verdienten. Aber sie trug kein Make-up, keinen Schmuck. Ihr Sweatshirt war ein abgetragenes Relikt aus ihrer Studentenzeit an der Duke University. An ihr hätte sogar ein Jutesack schick ausgesehen.
»Mein Mann hat mir erzählt, daß er mit Ihnen gesprochen hat«, sagte sie.
»Wieso habe ich das Gefühl, bei Ihnen von vornherein ein paar Minuspunkte auf dem Konto zu haben?«
»Bei Paul haben Sie auf jeden Fall welche. Ich fälle meine eigenen Urteile.«
Jay nickte. »Das ist fair. Mir wurde gesagt, Sie seien eine bemerkenswerte Frau, Dr. Garrison.«
Ihre lange, elegante Hand wehrte ab. »Daran sind nur die Umstände schuld. Und deshalb sind Sie ja schließlich hier, nicht wahr?«
»Ich werde ganz offen zu Ihnen sein, Dr. Garrison. Ich bin Schriftsteller. Sie haben hier eine Superstory. Ich hätte gern die Chance, sie zu erzählen.«
»Und wenn ich ablehne, werden Sie sie dann trotzdem erzählen?«
»Wahrscheinlich. Ich würde gern auch Ihre Perspektive berücksichtigen, aber es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie mitmachen wollen oder nicht.«
»Gut, das war deutlich. Meine Antwort ist Nein. Diesen Alptraum einmal zu durchleben reicht vollkommen. Ich habe kein Bedürfnis, das alles wieder aufzuwühlen, indem ich Ihnen die Geschichte erzähle oder mir vorstelle, daß Tausende von Menschen es stellvertretend durchleben werden, wenn sie Ihr Buch lesen.«
»Nicht einmal, wenn es jemandem helfen könnte zu begreifen . . .«
»Was zu begreifen? Das ist nicht zu begreifen. Ich weiß es. Ich habe jede Nacht, jeden Tag mit dem Versuch verbracht, es zu verstehen. Alles, was dabei herauskam, waren neue Fragen.«
»Es wird ein beachtlicher Geldbetrag für Josh dabei herausspringen«, sagte Jay. Er fand es sehr aufschlußreich, daß Hannah kein Wort über Geld verloren hatte, dem doch praktisch der erste Gedanke ihres Mannes gegolten hatte.
Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. »Ich werde weder meinen Sohn noch mich verkaufen, Mister Brooks. Wir brauchen Ihr Geld nicht. Ich möchte nur eins: weg von diesem Alptraum. Wir müssen emotional Abstand gewinnen und unser Leben weiterleben. An jedem Dollar, der mit diesem Alptraum in Zusammenhang steht, würden schreckliche Erinnerungen kleben. Es wäre wie Blutgeld.«
Sie stand auf und strich mit den Händen über den ausgeleierten Saum ihres Sweatshirts »Nein. Das ist meine Antwort. Möchten Sie einen Kaffee?«
Das Thema war abgeschlossen, sie ging zu den üblichen Pflichten einer Gastgeberin über. Jay hatte das Gefühl, daß Hannah, wäre er vor einem Monat hergekommen, bessere Manieren an den Tag gelegt, ihn freundlicher, weniger taktlos behandelt hätte. Ihr Martyrium hatte alles Überflüssige in ihr abgeschliffen, jede Förmlichkeit war ihr abhanden gekommen, und nur das Aufrichtige, das unbedingt Notwendige war geblieben. Wie so viele Menschen, die er interviewt hatte, Menschen, die schreckliche Erlebnisse hinter sich hatten, hatte Hannah eingesehen, was alles im Leben
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