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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hattest. Aber um Rache an Dir zu nehmen, hat sie Dich ins Zuchthaus gebracht. Nach dieser Aussage ist Frau Mertsch gestorben.
    Komm zurück, Liebster – in einem Wiederaufnahmeverfahren wirst Du freigesprochen werden. Du bist, was Du immer beteuert hast: unschuldig!
    Aber dazu mußt Du nach Deutschland kommen!
    Komm!
    Ich küsse Dich.
    Bettina.«
    Dr. Haller ließ den Brief fallen. Er flatterte hinunter zu Siri und blieb auf ihren Haaren liegen. Sie nahm ihn weg, faltete ihn zusammen und steckte ihn in den Ausschnitt ihres Schwesternkleides.
    »Was schreibt sie, Chandra?« fragte sie.
    »Es geht ihr gut.«
    »Weiter nichts?«
    »Nein.«
    »Ist ›Es geht mir gut‹ auf deutsch ein langer Satz?«
    »Manchmal ja.« Haller lehnte sich zurück und starrte an die Hüttendecke. Neun Jahre umsonst gelitten, dachte er. Neun Jahre systematische Zerstörung für nichts! Neun Jahre die Hölle auf Erden für eine weibliche Rache! Später lag Haller im Bett, innerlich zu erregt, um schlafen zu können. Sie werden mir meine Approbation wiedergeben. Ich bin wieder Mensch, sogar für die Akademiker! Ich, Dr. med. Reinmar Haller, Facharzt für Chirurgie! Ein bis zur Lähmung getriebener Justizirrtum. Ich bin ein Phönix im Rollstuhl!
    Während er in seinen Gedanken schwamm, saß Siri bei Dr. Kalewa und zeigte ihm Bettinas Brief. »Sie haben doch in Heidelberg studiert?« sagte sie. »Bitte, übersetzen Sie mir diesen Brief.«
    Der dröhnende Klang der Glocke weckte Dr. Haller. Er lag allein im Bett. Der Platz neben ihm, wo sonst immer Siri, wie eine Katze zusammengerollt, lag, war leer und unberührt. Die dünne Decke war noch so aufgeschlagen wie am Abend vorher, das flache Kopfkissen war unzerknittert.
    Haller dehnte sich und wartete darauf, daß Siri mit ihrem bezaubernden Lächeln in die Hütte kam und zu ihm sagte: »Aufstehen, Chandra, du Faulpelz!« Dann würde sie ihm den Rollstuhl ans Bett schieben, er würde seine Arme um ihren Nacken legen, und sie würde ihm in den Stuhl helfen.
    Heute würde er sagen: »Geh wieder ins Bett, du schwarze Katze! Jawohl, ich bin ein Faulpelz! Ich habe ein Recht dazu! Man hat mich in den Hintern getreten, Dr. Muthesius soll den ganzen Kram machen, ich bin Pensionär, Siri, man braucht mich nicht mehr, ich bleibe liegen! Zum erstenmal bleibe ich an einem Vormittag liegen und tue nichts!«
    Aber Siri kam nicht.
    Dr. Haller drehte sich zur Seite, und jetzt erst sah er, daß Bettinas Brief auf Siris Kopfkissen lag. Er war aufgefaltet, und auf der Rückseite, die jetzt nach oben gedreht war, hatte sie mit ihrer zierlichen, etwas kindlichen Handschrift die englische Übersetzung geschrieben. So, wie Dr. Kalewa es ihr vorgelesen hatte.
    Dr. Haller begriff.
    »Siri!« schrie er. »Das ist ein Irrtum! Darüber muß man reden! Ich werde nicht nach Deutschland fahren! Ich bleibe in Nongkai! Ich bleibe bei dir! Siri …«
    Er ließ sich vom Bett fallen, wälzte sich über die Erde, versuchte, ob seine Beine nicht doch einen Funken von Kraft in sich hätten, aber sie hingen wie abgebundene Würste an ihm und waren vom Muskelschwund entstellt. Mit den Händen sich abstoßend, kroch er weiter, erreichte den Rollstuhl, zog sich an ihm empor und wälzte sich in den Sitz. Dann griff er in die Räder, rollte sich vorwärts, stieß die Tür auf und schob sich auf die Straße. Dort sah ihn ein Lepröser, zögerte und kam dann näher. Der Anblick des Doktors war erschreckend.
    »Fahr mich zu Minbya!« schrie Haller. »Zu Minbya!«
    Der Lepröse sprang hinter den Rollstuhl, packte die Rückenstange und schob den Doktor über den Marktplatz zu dem großen Bürgermeisterhaus. Im neuen Kirchturm schwieg die Glocke. Der Küster, der unten am Seil stand, starrte entgeistert auf Dr. Haller, der von einem Kranken in unvernünftigem Tempo herangerollt wurde.
    Auch Minbya sah ihn kommen. Er saß am Fenster und hatte schon seit einer Stunde gewartet. Die Nacht, die hinter ihm lag, war schrecklich gewesen. Er hatte Siri trösten müssen, er hatte seine Frau beruhigt, und als er sich nicht mehr zu helfen wußte, hatte er den Prediger Manoron geholt, der bis zum Morgengrauen vergeblich auf Siri einredete und dann resignierend sagte: »Man kann Heiden bekehren, aber nicht eine liebende Frau!«
    »Wo ist Siri?« schrie Haller schon an der Tür. »Komm heraus! Erzähl mir nicht wieder, daß du von nichts weißt! Wo ist sie?« Minbya senkte den Kopf.
    »Herr«, sagte er schlicht. »Ich weiß, daß du mir nicht glaubst. Aber ich

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