Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
umgefallen vor Entsetzen. Und jeden Abend habe ich mich gefragt: Wieder ein Tag vorbei – Wie hat er ihn bloß ausgehalten? Ist er anders als andere Menschen? Bei dem Befund? Was hält ihn bloß aufrecht? Und immer habe ich gesagt: ›Hören Sie auf, Doktor! Schonen Sie sich! Wir beide allein wissen, was los ist!‹«
    »Ich wußte es auch«, sagte Siri ruhig.
    »Und du hast nichts dagegen getan? Gerade du?« Butoryan starrte Siri fassungslos an.
    »Ich habe ihn geliebt. Er ist sein ganzes Leben lang nie richtig geliebt worden. Er wußte gar nicht, was Liebe ist. Er hatte Frauen im Bett, aber sein Herz blieb immer leer.« Sie blickte hinüber zu Haller. Er lag mit offenen, starren Augen unter dem Sauerstoffzelt, wie gefesselt mit Schläuchen und Sonden, die in seinen hilflosen Körper führten. »Nur das konnte ich für ihn tun.« Sie wandte den Kopf zu Dr. Butoryan zurück. »Chandra wird wieder laufen lernen.«
    »Nein!« Es war hart, aber Butoryan fühlte sich zu rücksichtsloser Offenheit verpflichtet. Es gab keine Hoffnung mehr.
    »Er wird wieder sprechen.«
    »Nie.«
    »Er wird wieder Kranke heilen.«
    »Siri, das sind doch irre Illusionen!«
    »Für Sie, Dr. Butoryan. Haben Sie einen Notizblock? Schreiben Sie auf, was ich Ihnen sage.«
    Sie blickte auf Ihre Armbanduhr. »Heute, den 17. November, morgens fünf Uhr vierzehn, sage ich, Siri, daß Chandra wieder laufen, sprechen und heilen wird.«
    Butoryan rührte sich nicht. Er verzieh es Siri. Ihre Verzweiflung mußte alle Maße sprengen.
    »Und wie wollen Sie das fertigbringen?« fragte er trotzdem, weil sie auf eine Reaktion zu warten schien. »Mit welchem Wundermittel?«
    »Mit der Liebe, Butoryan.«
    Wehrlos gegen diesen Glauben, verließ er das Zimmer.
    Draußen, über den Urwaldbergen, flammte die Sonne auf. Ein herrlicher Strahlenkranz umgab sie.
    Auf den Reisfeldern landete mit einem Hubschrauber Oberst Donyan und rannte in das Dorf.
    Stille empfing ihn. Leere Straßen. Zum erstenmal seit ihrer Weihe läutete die Glocke nicht den Morgen ein. Die Menschen hockten in ihren Hütten und beteten.
    Da wußte Donyan, daß alles verloren war.
    Dr. Haller überlebte die ersten kritischen Wochen, er überlebte auch ein Herzflimmern und einen neuen Kreislauf Zusammenbruch. Er überlebte einfach alles, was ein Mensch nach medizinischer Erfahrung gar nicht überleben konnte. Er lag bloß da, später ohne Sauerstoffzelt und Infusionen, und das erste, was er ganz leicht, kaum spürbar, wieder bewegen konnte, war seine linke Hand. Mit ihr hielt er Siris Hand fest, und es war, als habe man damit einen Stromkreis geschlossen, der ständig Kraft in ihn hineinfließen ließ.
    »Es ist unheimlich«, sagte Butoryan zu den anderen Ärzten, als Haller nach neun Wochen zu lallen begann. Er konnte bereits den Kopf hin und her bewegen und Siris Hand mit seiner Hand drücken. Er brauchte auch nicht mehr durch Sonden ernährt zu werden. Die Schluckbewegung war wiedergekommen, über Nacht. Siri erzählte es dem fassungslosen Butoryan.
    »Ich wage jetzt zu behaupten«, sagte Butoryan laut, »daß allein Siri in der Lage ist, Dr. Haller zu retten. Nur sie! Wir können nur Zuschauer bleiben!«
    »Und wie lange hält sie das durch?« fragte Doktor Singhpur. »Wann schläft sie eigentlich?«
    »Es gibt Tiere, die schlafen im Stehen. Zum Beispiel Pferde.«
    »Sie ist ein Mensch.«
    »Glauben Sie das noch, Dr. Singhpur?« Doktor Butoryan, in diesen Wochen dünner geworden und deshalb noch kleiner wirkend, wischte sich über die Stirn. »Für das, was wir hier erleben, habe ich keine Erklärung. Oder hat einer der Kollegen eine?«
    Man hatte keine. Aber Dr. Haller gesundete weiter. Nach vierzehn Wochen saß er im Bett und aß mit eigener, noch zittriger Hand. Seine Sprache war noch nicht wiedergekommen, es blieb bei einem Lallen, das aber bereits Ansätze von Wortbildungen zeigte. Dafür konnte er schreiben, hatte ständig einen großen Block auf den Knien liegen und beschimpfte Butoryan schriftlich, wie sonst in seinen besten Zeiten mit Worten: »Sehen Sie denn nicht, wie Siri zusammenfällt?«
    »Um sie von Ihnen wegzubekommen, müßte ich sie narkotisieren«, antwortete Dr. Butoryan.
    »Dann tun Sie's endlich!« schrieb Haller. »Sie ist ja nur noch Haut und Knochen!«
    Aber das blieb ein einsamer Wunsch. Siri wich nicht von seinem Bett. Aber sie schlief jetzt endlich auf einem Nebenbett an der gegenüberliegenden Wand, und Haller war glücklich, wenn er in schlaflosen Nächten ihren

Weitere Kostenlose Bücher