Engel der Vergessenen
ruhigen, gleichmäßigen Atem hörte. Nach zwanzig Wochen hob man ihn aus dem Bett und setzte ihn in einen Rollstuhl.
Er war so schlapp, daß man ihn an der Rückenlehne festbinden mußte, weil er ständig nach vorn kippte. Er konnte jetzt auch wieder, wenn auch mit schwerer Zunge, sprechen. Und eines Tages befahl er, mit großer Anstrengung:
»Los! Fahren! Vi… Visi… Visite!«
Es war ein Anblick, den keiner der Leprakranken vergaß, als man ›ihren‹ Arzt, an den Rollstuhl festgebunden, durch die Stationen fuhr, und er zu jedem Kranken mühsam sagte: »Gu…ten Tag! Kopf hoch! Ich auch! Wei…ter …«
Schweißgebadet nach dieser ersten, höllischen Visite, sank Dr. Butoryan auf einen Stuhl. Den anderen Ärzten ging es nicht anders. Pala und Siri versorgten Dr. Haller und gaben ihm Kreislaufmittel. Diese erste Ausfahrt hatte ihm mächtig zugesetzt. Er gestand es nicht ein, aber er war froh, als er wieder im Bett lag.
»Mor…gen wie…der«, sagte er leise zu Siri, die ihm das Gesicht mit Alkohol abrieb. »Vi – si – te.«
In der zweiundzwanzigsten Woche nach seinem Zusammenbruch saß Dr. Haller gerade im Rollstuhl, konnte ganze Sätze sprechen, seine Hände zitterten nicht mehr, und er sagte zu Dr. Butoryan: »Mein Junge, ich konnte gar nicht sterben. Ihr dämliches Gesicht war immer über mir. Noch immer die scheußliche, rutschende Brille! Wie kann man denn ruhig sterben, wenn man sich immer über Sie ärgern muß!«
An einem trüben Septembertag, fast ein Jahr nach Hallers Erkrankung, landete Oberst Donyan wieder auf dem Reisfeld hinter Nongkai. Es mußte etwas sehr Wichtiges sein, was ihn in den Dschungel trieb und ihn die waghalsige Landung auf dem nassen Boden nicht scheuen ließ.
Dr. Haller, der aus seinem Rollstuhl auf der Terrasse des Hospitals den zweimal über Nongkai kreisenden Hubschrauber beobachtete, hatte ein wenig gutes Gefühl, als er Donyan eine halbe Stunde später im offenen Krankenhausjeep ankommen sah.
»Ich sehe Ihnen an, daß Sie schlechte Nachrichten bringen«, sagte Haller, ehe Donyan noch ein Wort sprechen konnte.
»Wieso?« Der Oberst zupfte an seiner grünen Uniformjacke, es war seine typische Verlegenheitsgeste. »Ich wollte mich nur mit Ihnen etwas länger unterhalten, Doc.«
»Dazu haben Sie bis heute das Telefon benutzt. Außerdem wäre in zehn Tagen Ihr Monatsbesuch sowieso fällig gewesen. Also raus mit der Wahrheit: Was ist los?«
Siri kam aus dem Hospital mit einem Tablett und drei Gläsern Fruchtsaft.
Donyan griff sofort danach, trank sein Glas gierig aus und seufzte. »Das müßte Whisky sein«, sagte er.
»So schlimm?« Haller spürte einen Druck im Magen. Er überlegte, was Donyan so aus der Fassung bringen konnte.
Taikky war tot, Karipuri war tot, niemand sprach mehr über diese Zeit der Korruption und des Verbrechens an den Kranken. Sie war auch für die Regierung in Rangun, unter deren Aufsicht alles geschehen war, kein Ruhmesblatt. Donyan hatte also nichts zu befürchten – auch wenn erst jetzt seine Beziehungen zu Taikky ans Licht kommen sollten. Nein, es mußte etwas anderes sein, etwas, das ganz Nongkai berührte.
»Sie bekommen einen Liter Whisky, wenn Sie endlich reden, Oberst!« sagte Haller. Es ging ihm seit zwei Wochen, den Umständen entsprechend, ausgezeichnet. Alle Lähmungen hatten sich zurückgebildet, nur die Beine waren noch kaum beweglich. Siri und Haller trainierten zwei Stunden am Tag und machten Geh- und Stehübungen. Daß seine Beine aber jemals wieder seinen Körper tragen würden, wagte selbst Haller nicht zu hoffen. »Vielleicht will ich gar nicht«, sagte er einmal mit Ironie zu Dr. Butoryan. »Ständig herumgefahren zu werden, das ist herrlich! Ich war immer schon ein fauler Kerl!«
Oberst Donyan nahm Haller das Glas aus der Hand und trank auch das leer. Er begann heftig zu schwitzen.
»Ich will es Ihnen ganz klar und brutal sagen, Doc«, setzte er dann an. »Mit Ihnen kann man ja doch nicht um die Ecke reden. Also – ich komme in zehn Tagen wieder.«
»Und deshalb landen Sie im Reis?«
»Ich komme nicht allein!« Donyans Stimme klang seltsam gequetscht. »Ich bringe etwas mit. Verdammt, jetzt muß ich doch weit ausholen! Also: In den letzten Monaten ist so viel an Geldern nach Nongkai hineingepumpt worden, ist so viel in aller Welt über Nongkai gesprochen worden, daß die Regierung in Rangun mit Freuden zugegriffen hat, als man ihr das Angebot unterbreitete, das Lepradorf als ein Musterbeispiel für
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