Engel der Vergessenen
fuhren drei Stunden auf dem Fluß, den Siri ›Nongnong‹ nannte, und sahen nichts von den Brüdern Khawsa. Karipuri mußte sich geirrt haben. Sie waren also doch nachts gewandert, ohne Rücksicht auf die Tiger. Der Drang nach Freiheit war stärker als die Angst vor der Gefahr.
»Das wird ein langer Ausflug, Siri«, sagte Haller. »Wenn die Brüder am Flußufer losgerannt sind und die ganze Nacht durchgehalten haben, liegen sie jetzt irgendwo im Gebüsch und schlafen.«
»Sie werden auf Bäumen schlafen, Chandra. Wegen der Tiere.«
»Wieder was gelernt. Es ist doch gut, daß du bei mir bist, Siri.«
»Es ist immer gut, bei dir zu sein.«
»Guck mich nicht so verteufelt verliebt an.« Haller suchte das rechte Flußufer ab. Es war unmöglich, hier etwas zu sehen. Wenn dort drüben zwei Menschen im grünen Dickicht verschwinden wollten, dann war dazu nur ein Schritt nach rückwärts nötig, und keiner erkannte sie mehr. Der Urwald saugte alles auf. »Ein Arzt, der seinen Patienten auflauert wie reißenden Tieren! Wenn das der edle Hippokrates wüßte! Und in den Memoiren berühmter Ärzte fehlt so etwas auch.« Er blickte auf seine Armbanduhr und begann zu rechnen.
Wie schnell kann ein Mensch laufen? Angenommen, die Brüder Khawsa haben die ganze Nacht durchgehalten, dann sind sie jetzt zehn Stunden unterwegs. An einem Dschungelfluß entlang kann man aber nicht wie auf einer Sportbahn rennen, also streichen wir fünfzig Prozent ab. Fünf Stunden maximal, mal im Schritt, mal im Laufschritt. Dann könnten es höchstens dreißig Kilometer sein, in zehn Stunden …
»Wir fahren noch ein Stück hinunter, drehen dann und schleichen uns am Ufer wieder aufwärts. Eigentlich ist das alles sinnlos, denn ich sehe nur Grün, weiter nichts.«
»Aber ich werde etwas sehen, Chandra«, sagte Siri. »Sie haben nichts zu essen mitgenommen, aber sie müssen essen.«
»Idioten sind sie also auch noch!« sagte Haller trocken.
»Sie haben keine Waffen, allenfalls Speere und Pfeile. Sie werden aus dem Dschungel kommen müssen und Fische stechen. Nur davon können sie leben.«
»Und ausgerechnet dann tuckern wir heran! Siri …«
»Ja, Chandra?«
»Sie werden mich in Lashio einsperren. Jahrelang.«
»Wir werden flüchten, Chandra.«
»Auch hier entlang, was?« Haller starrte in die grüne Hölle. Dort lauerte der gnadenlose Tod.
»Wir werden uns irgendwo eine Hütte bauen und dort leben, Chandra, wir ganz allein.« Sie lächelte ihn an, und es war so viel Liebe in ihrem schmalen Gesicht, so viel Glück und Vertrauen, daß Haller es unterließ zu antworten. »Brauchen wir mehr als uns, Chandra? Der Wald schenkt uns alles. Warum hast du noch Angst?«
Ja, warum, dachte Haller. Warum habe ich Angst? Man sollte einfach weiterfahren bis zu einem Platz, wo man sagen kann: Hier bauen wir eine Hütte! Und ihr alle, die ganze Welt, alles was hinter mir liegt – ihr könnt mich alle! Ich habe Siri, ich habe ein Boot und zehn Kanister Benzin – das reicht eine lange Zeit. Wir werden uns Paddel anfertigen und zum Fischen hinauspaddeln. Haller schüttelte den Kopf. Ein schöner Traum.
Haller gab mehr Gas, das flache Boot rutschte über den Fluß, dann wendete er und fuhr so nahe ans rechte Ufer heran, wie es möglich war.
Hier sah die Welt plötzlich ganz anders aus. Der Gifthauch des Dschungels wehte ihm entgegen, der Geruch von Schimmel, die klebrige Süße von Blüte und Verwesung.
Unmöglich, dachte Haller. Man kann nicht einfach hier Station machen und sagen: Schluß jetzt! Hier ist der Fleck, auf dem ein Dr. Haller und eine Siri Minbya ihr Leben einpflanzen. Für immer. Wie die Urwaldbäume.
Es geht einfach nicht. In Nongkai warten über zweihundertfünfzig Lepröse auf ihren Arzt, auf ihren Engel.
An einer seichten Stelle hielt Haller. Er stellte den Motor ab, und sofort waren die tausend Geräusche des Dschungels um ihn – ein Wispern, Raunen, Knacken, Kreischen. Ein herrlicher Paradiesvogel mit einem langen hellroten Federschwanz flog auf, zog einen Kreis über das Boot und verschwand wieder in der grünen Wand. Aber auch das Wasser, bisher träge, milchiggrün, wurde lebendig. Flache, hornige Echsenköpfe tauchten auf, kleine, kalte, böse Augen musterten die Menschen. Ein ganz mutiger Bursche schwamm heran und stieß mit seinem breiten Maul gegen das Boot. Es begann gefährlich zu schaukeln. Haller griff zum Gewehr, lud durch und entsicherte es.
Sie lagen mitten in einem Krokodilrudel. Die Ausbuchtung im Ufer, das
Weitere Kostenlose Bücher