Engel der Vergessenen
aufschrauben, riechen, wegwerfen. Zehnmal.
Haller lehnte sich an den Motor. Um ihn herum lagen die Kanister, die Flüssigkeit lief aus ihnen und verteilte sich über den Bootsboden.
Und es roch nicht entfernt nach Benzin.
»Sie haben uns Wasser mitgegeben«, sagte Haller tonlos. »Siri! Sie haben uns statt Benzin Wasser mitgegeben. Sie wollen uns umbringen!«
Er umklammerte den Motor, zog Siri mit der anderen Hand zu sich her und preßte sie fest an sich.
Die Krokodile hatten sich formiert. In breiter Front schwammen sie zum Angriff.
In Augenblicken höchster Gefahr, in unmittelbarer Todesnähe, haben Menschen oft die absonderlichsten Gedanken. Während die einen resignieren und sich kampflos ergeben, andere in Panik erstarren oder die Kontrolle über sich verlieren, gibt es einige wenige, die in der Verzweiflung etwas unternehmen, was jeder vernünftig Denkende als sinnlos bezeichnen würde. Vieles, was man Heldentum nennt, ist nichts als der Urdrang, leben zu wollen, nur leben um jeden Preis.
Den sicheren Tod vor Augen, der mit gehörnten Panzern und kalt glitzernden Augen durch das grünschlammige Wasser heranschwamm, tat auch Dr. Haller etwas scheinbar völlig Sinnloses.
Er bückte sich, riß einen der leeren Benzinkanister vom Boden und schleuderte ihn in die Formation der angreifenden Krokodile.
Die Wirkung war verblüffend. Ob es die Farbe der Behälter war, die die Tiere erschreckte, oder der helle, nachhallende Ton, der entstand, als das Blech auf den Panzer des vorderen Krokodils prallte, wieder hochsprang und dann den Rücken heruntertanzte, als jongliere die Echse damit?
Der geordnete Angriff stockte, die breitmäuligen Köpfe zuckten herum und schnappten nach dem Kanister.
»Ihr könnt noch mehr haben!« schrie Haller. »Freßt euch an ihnen satt! Da! – Und da! – Und da!« Er schleuderte alle leeren Kanister auf die Köpfe der Krokodile, es polterte und hallte, die schrecklichen Mäuler klappten auf, Zahnreihen hieben in das Blech, zerquetschten es, durchlöcherten es mit einem Biß, spuckten die zertrümmerten Behälter wieder aus, auf die sich dann die zweite Reihe der Echsen stürzte, blindwütig in ihrer Vernichtungslust.
Das Wasser um das flache Boot schien zu kochen. Schaum quoll auf, in einem höllischen Tanz umkreisten die Krokodile die gefährlich schaukelnde Kunststoffschale und vernichteten die roten Blechbehälter. Mit gewaltigen Schwanzschlägen trieben sie sich gegenseitig weg, jagten sich die knirschende Beute ab und verloren völlig das Interesse an den beiden Menschen.
Schweißüberströmt lehnte Haller an dem unnützen Motor und starrte auf die übereinanderschnellenden hornigen Leiber. Siri lag flach auf dem Bootsboden in dem fauligen, ins Boot geschlagenen Wasser und hatte den Kopf in den Armen vergraben und weinte.
Weg von hier, dachte Haller. Das alles ist nur ein Aufschub. Wenn sie die Kanister zermalmt haben, kommen sie wieder. Wie können wir uns nur von der Stelle bewegen? Sollen wir mit den bloßen Händen paddeln?
Er nahm das Gewehr vom Sitz, zielte auf eines der kleineren Krokodile am Rande des Kreises und wartete, bis es aus dem Wasser schnellte und seine weiße, blanke Brust zeigte.
Dann drückte er ab.
Das Reptil schien in der Luft stehen zu bleiben. Hoch aufgerichtet, das breite Maul aufgerissen, blieb es eine Sekunde lang zwischen Himmel und Fluß hängen und klatschte dann rückwärts zurück in die grünliche Brühe. Sofort ließen die Krokodile, die ihm am nächsten waren, die Kanister los und stürzten sich auf das sterbende Tier. Blutiger Schaum quoll auf, von allen Seiten schossen die Körper heran.
Blut. Das Signal zum Fressen.
Die Zahnreihen hieben in den treibenden Körper und zerrissen ihn.
»Bleib liegen, Siri!« schrie Haller, als sie sich bewegte.
Er legte wieder an, zielte und wartete auf die nächste günstige Gelegenheit. Seine Hand war ganz ruhig, und das erstaunte ihn am meisten. Früher hatte sie schon gezittert, wenn er ein halbvolles Glas hochhob, und wenn man ihm einen Teller mit dem Besteck auf die flache Hand legte, klapperten Messer und Gabel auf dem Porzellan wie Trommelschlegel. Wenn er die Hände von sich streckte und ihr Zittern betrachtete, hatte er sich gefragt: Wie lange noch, altes Saufloch? Was sagt die medizinische Statistik über Alkoholiker? Und er hatte sich höchstens noch ein, zwei Jahre gegeben.
Jetzt war die Hand völlig ruhig, wie sie ruhig gewesen war in den sechzehn Stunden ununterbrochener Operation.
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