Engel der Vergessenen
Nongkai heißt – abgesehen von den unschuldigen, still vor sich hinfaulenden Menschen, die bisher machtlos waren.«
»Ich habe so etwas geahnt«, sagte Bettina leise.
Jetzt blickte er doch hoch. Sie sahen sich an, und Haller dachte: Sie hat unwahrscheinlich blaue Augen. Solche Augen hatte Luise nicht. Sie waren immer ein wenig distanziert, einen Stich zu vornehm, ein wenig zu abschätzend. Nein, Bettina hat wundervolle Augen. Aber was soll's?
»Sie haben es geahnt? Wieso?«
»Ich wurde in Rangun entführt, zu einem geheimnisvollen Haus gefahren, in dem ein Folterknecht tätig war, und aufgefordert, zurück nach Hamburg zu fliegen. 10.000 Pfund wollte man mir dafür bezahlen.«
»Aber Sie sind doch in Nongkai.«
»Aus Trotz! Ich lasse mich nicht zwingen!«
Das klang genauso, wie es Haller von ihr erwartet hatte. Ihr Mund war jetzt schmal, das Blau ihrer Augen dunkler. An den Bambuswänden hingen die qualmenden Öllampen und spendeten der kleinen Kirche dunstiges Licht.
»Und dann hat Karipuri und später Taikky Ihnen von mir als dem größten Ungeheuer erzählt, das je durch den Dschungel gelatscht ist.«
»So ähnlich.«
»Mich wundert, daß man Sie allein herumlaufen läßt. Die Gefahr, mich zu treffen und mit mir zu reden, ist doch zu groß. Und nun ist's sogar passiert. Was planen die Halunken eigentlich?«
»Fragen Sie ihn selbst.« Bettina winkte mit den Augen. Sie hatte sich zufällig umgedreht. Ein Schatten lehnte neben der Kirchentür.
Dr. Haller blieb sitzen, aber die fürchterliche Müdigkeit war weggeblasen. Der Instinkt für die Gefahr, den er in den Jahren seiner Wanderschaft rund um die Welt entwickelt hatte, warnte ihn.
»Kommen Sie näher, Karipuri«, sagte Haller laut auf englisch. »Als Türsteher machen Sie eine unglückliche Figur.«
Dr. Karipuri kam langsam in den Lichtkreis. Er trug ein langes, indisches Gewand, eine Art Mantelrock, und darunter eine weiße, enge Hose mit gelben Stiefeletten. Ein Modegeck im Dschungel.
»Da Sie kein Deutsch können, will ich Ihnen sagen, was Bettina Berndorf mir erzählt hat«, sagte Haller, als Karipuri sich neben ihnen an die Wand lehnte. »Sie hat mich davon überzeugt, daß ich ihr unsympathisch bin.«
»Warum lügen Sie so abscheulich?« fiel ihm Bettina auf deutsch ins Wort.
»Mädchen, halten Sie den Mund! Sie sitzen mit Ihrem schönen Hintern auf einem giftigen Nagelbrett und wissen es gar nicht. Wenn Sie etwas ganz Gutes tun wollen, dann halten Sie immer zwei Meter Abstand zwischen sich und mir.«
»Das wird mir nicht schwerfallen!« Sie sprang auf. Ihre Empörung war echt, ihre schönen blauen Augen funkelten vor Zorn. Sie strich mit beiden Händen über ihr kurzgeschnittenes blondes Haar und verließ mit energischen Schritten die Kirche. Haller blickte ihr zufrieden nach.
»Da geht sie hin und singt schmutzige Lieder«, sagte er fröhlich. »Karipuri, Sie Saukerl, was haben Sie ihr eigentlich über mich erzählt? Ich werde es schwer haben, das alles richtigzustellen.«
»Vielleicht schaffen Sie das nie, Haller.« Auch Karipuri war zufrieden. Die kleine Szene hatte ihn beruhigt. Zu einem Kontakt zwischen Haller und Bettina würde es in der nächsten Zeit nicht kommen. Er durchschaute nicht, daß Haller den Vorfall bewußt provoziert hatte, gerade, um Karipuri diese Sicherheit zu verschaffen. Es war gelungen. Bettina hatte mitgespielt, wenn auch ungewollt. Auf jeden Fall war sie damit aus dem direkten Schußfeld von Taikky und Karipuri geraten. Man konnte sich wieder ganz auf Haller konzentrieren.
»Übrigens …«, sagte Karipuri und suchte nach einer Zigarette. Haller wedelte mit der Hand.
»In unseren Kirchen wird nicht geraucht.«
Karipuri steckte die Zigarettenschachtel wieder ein. »Zwei Ihrer neuen Freunde sind ausgerissen! Sie sollten sich morgen früh darum kümmern. Seit zwei Jahren hat keiner mehr gewagt, heimlich Nongkai zu verlassen. Kaum sind Sie da, schon spukt falsch verstandener Freiheitsdrang in den Köpfen der Leprösen. Wissen Sie, was mit Ihnen passiert, wenn wir die beiden nicht wieder einfangen und sie vielleicht Gesunde anstecken? Sie haben bei Ihrer Visite – wie Sie Ihren Auftritt im Hospital zu nennen belieben – das Fehlen der beiden Brüder Khawsa nicht gemerkt?«
»Karipuri, ich bin erst sechzig Stunden hier. Davon habe ich zwanzig Stunden bei den Kranken verbracht. Verlangen Sie, daß ich jetzt schon jede dieser über zweihundert Personen namentlich kenne? Wo wohnen sie?«
»In Haus 93. Beides
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