Engel der Vergessenen
für alle – für die Ärzte, die sieben Pfleger, die drei Verwaltungsbeamten, den Verwaltungsdirektor Donu Taikky und seinen Sekretär.
Das war ein Rätsel für sich: Donu Taikky.
Plötzlich – vor einem Jahr – war er in Homalin gelandet, ein fetter, unangenehmer Mensch mit kleinen listigen Augen. Er zeigte ein Papier aus Rangun vor, das ihn als Direktor der Klinik auswies, übernahm die Verwaltung und damit auch die Kasse, die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten und schrieb jeden Monat einen langen Bericht nach Bhamo. Dort saß ein Gouverneur, der über einige tausend Quadratkilometer eines Dschungelgebiets herrschte, in dem auch Nongkai lag. Es sah also aus, als habe alles seine Richtigkeit, so wie es sein muß, wenn Beamte am Werk sind – aber der Schein trog.
Medikamente verschwanden auf geheimnisvolle Art. Die Zahl der Kranken blieb immer um vierzig bis fünfzig höher, als sie wirklich war. Tote wurden nur zögernd in die Sterbebücher eingetragen und gruppenweise übers ganze Jahr verteilt, denn für jeden Lebenden gab es einen Zuschuß, und je mehr Lebende, um so mehr Geld in die Kasse von Donu Taikky.
Das war bisher nie aufgefallen, denn wer sollte solche Praktiken nach Rangun melden? Dr. Karipuri, der Chefarzt, war an dem Erlös mit zwanzig Prozent beteiligt. Dr. Adripur war ein kleiner Assistenzarzt, der aus jeder Dienststube geohrfeigt worden wäre, wenn er die Geschäfte des Donu Taikky aufgedeckt hätte.
Sonst aber lebte man in Nongkai zufrieden, wenn man so etwas Leben nennen konnte, und die Kranken waren froh, daß sie leben durften und nicht, wie der dumme Dongwa, kurzerhand erschlagen wurden. Dongwa hatte sich beschwert, daß Reis und Büchsenfleisch nie in voller Portion ausgegeben wurden. Man hatte Felder mit Tee, Mais, Weizen, Reis, Erdnüssen, Zuckerrohr, Sesam und Tabak angelegt. Es gab sogar eine Baumwollfarm, allerdings außerhalb des Dorfgebietes. Hier arbeiteten nur ganz zuverlässige Lepröse, kräftige Männer und Frauen, die noch an Heilung glaubten und deshalb nicht an Flucht dachten. Es war überhaupt erstaunlich, wie sich dieses Dorf in den vergangenen Jahren entwickelt hatte. Man heiratete untereinander, es gab eine Kirche, in der alle Religionen ihre Gottesdienste abhielten, die Ehepaare trauten, die Toten beklagten und die Säuglinge tauften.
Auch das gab es, und zur Freude Donu Taikkys in immer größerem Maße: Geburten. Denn jedes neue Kind wurde sofort als neuer Kranker in die Liste eingetragen und erhielt die Staatshilfe. Da niemand in Rangun die Meldungen aus Nongkai nachrechnete und die Buchführung Taikkys geradezu verwirrend war, und da aus allen Gegenden des Landes die Leprakranken nach Nongkai geschafft wurden und das Zahlenspiel mit Neuzugängen und Toten immer artistischer wurde, verwandelte sich Taikky in einen wohlhabenden Mann.
Die telegrafische Nachricht aus Rangun, daß ein neuer Arzt aus Europa in Nongkai eintreffen werde, löste deshalb bei Taikky und Dr. Karipuri einiges Nachdenken aus. Die Kranken, bei denen sich die Nachricht schnell herumsprach, zündeten ein großes Feuer auf dem Dorfplatz an und feierten eine Art Dankopfer an alle Götter, die hier friedlich nebeneinander lebten, denn wem die Geschwüre Nasen und Ohren abfressen, dem ist es gleichgültig, ob sein Nachbar Buddhist, Christ oder Mohammedaner ist.
»Wir werden uns den Mann genau ansehen«, sagte Taikky an diesem Abend. Dr. Adripur war schon abgefahren, um Haller in Homalin abzuholen. Er machte einen Umweg zum Baumwollager, um dort drei Kranke mit einem neuen Salbenverband zu behandeln, wollte in einer der Hütten übernachten und am frühen Morgen zum Flugplatz weiterfahren. »Was wissen Sie über ihn, Ratna?«
»Nichts.« Dr. Karipuri, wie Adripur ein Inder, aber in zwei Generationen mit Birmesen vermischt, blätterte in seinen Notizen. Er hatte vergeblich über Funk in Bhamo und dann in Lashio angefragt. Dort wußte man auch nicht mehr, als daß ein Dr. Haller vom Ministerium engagiert sei.
»Er muß ein reiner Idealist sein«, sagte Dr. Karipuri. »Wer kommt sonst nach Nongkai?«
»Ich überlege, wie es weitergehen soll.« Donu Taikky streckte die dicken Beine von sich. Sie saßen auf der offenen Terrasse des Verwaltungsgebäudes, tranken eisgekühlten Whisky und aßen dazu geröstete Maiskolben. Ein Boy, auch ein Lepröser, der vor einem Jahr aus dem Süden gekommen war und dessen Krankheit nicht weiter fortzuschreiten schien, stand an dem Holzgrill und drehte
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