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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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können, um dort etwas zu lernen. Aber sie sagte immer nur: »Ich bleibe bei euch. Warum wollt ihr mich wegtreiben? Ich bin nicht der einzige gesunde Mensch in Nongkai. Wenn wir nun alle weggingen …«
    Es war nichts zu machen. »Man müßte sie schon betäuben und wegschaffen«, sagte Minbya. »Aber wie ein Hund käme sie wieder zurück! Meine Freunde, ich habe mich an das Leid gewöhnt, ich ertrage auch das! Was soll ich tun?«
    Als Siri neunzehn Jahre alt wurde, hatte sie bei den Ärzten einen Kursus in Krankenpflege absolviert und bekam zum Geburtstag als Ehrengabe ein Schwesternhäubchen, eine weiße Schürze, einen Mundschutz, Gummihandschuhe und ein weißes Leinenkleid. Doktor Karipuri stellte sie offiziell als Pflegerin an. Donu Taikky meldete sie nach Rangun, setzte ein höheres Gehalt ein, als er auszahlte, und verdiente nun auch an Siri jeden Monat ein paar Kyat { * } .
    »Ist sie nicht ein Engel?« rief Minbya immer wieder und zu jedem, der nach Siri fragte. »Ich sage euch – wenn die Sonne plötzlich nicht mehr schiene, sie würde sie uns ersetzen! O Gott, ich danke dir!«
    Es war nach langer Zeit wieder eine Gelegenheit, sich daran zu erinnern, daß man getauft war und eigentlich nicht Hano, sondern Johannes hieß. Aber das war in Nongkai unwichtig.
    An diesem Morgen nun war das Dorf mit Girlanden geschmückt. Sie hingen über der Hauptstraße, vor den Eingängen, von den Dächern: Girlanden aus wilden, stark duftenden Dschungelblumen, einem efeuartigen Schlinggewächs, Lianen und Federn bunter Riesenvögel, die man mit Leimruten fing. Man brauchte nur die Federn – das Fleisch war bitter und faulig wie das Dschungelwasser, von dem die Vögel tranken. Die Arbeitskolonnen waren nicht ausgerückt. Im Bürgermeisterhaus tagte der Große Rat. Selbst im Hospitalgebäude, wo die hoffnungslosen Fälle isoliert lagen und auf das gnädige Sterben warteten, breitete sich so etwas wie Hoffnung aus. Ein neuer Arzt kommt! Ein Arzt, der mehr kann als alle anderen? Natürlich kann er mehr als alle anderen! Käme er sonst zu uns? Aus Deutschland nach Nongkai! Das allein beweist doch, wie berühmt er ist! Er wird uns heilen, alle – auch die; die bereits verfaulen, die nicht mehr gehen können, denen die Finger und Zehen abfallen! Ein Wunder wird über Nongkai kommen!
    »Ich werde ihn fragen, ob er an Gott glaubt!« sagte Minbya in der Ältesten Versammlung. »Glaubt er an Gott, werden wir in der Kirche einen gemeinsamen Gottesdienst veranstalten. Hand in Hand, denn wir sind alle Brüder in unserer Krankheit!«
    Die Alten nickten. Es war das Selbstverständlichste von der Welt, sich einig zu sein. In dieser Hinsicht war Nongkai fast ein Paradies, so makaber es auch klingt, aber wo sonst in der Welt ist solche Einigkeit der Menschen und der Religionen?
    »Wir empfangen ihn am Eingang des Dorfes«, sagte ein Mann, der sich auf zwei Krücken stützte. Seine Füße waren dick umwickelt, aber dennoch roch man die widerliche Süße des faulenden Fleisches. »Wir stellen uns alle auf, auf beiden Seiten, und dann soll er durch unsere Gasse hindurchgehen, und die Frauen werden ihn mit Blumen bewerfen.«
    »Die Brüder und Schwestern im Hospital wollen ihn auch sehen!« rief jemand aus dem Hintergrund. »Sollen wir sie mit den Betten auf die Straße tragen?«
    »Unmöglich!« Minbya hob beide Hände. Sie waren verkrümmt wie Vogelkrallen und mit dicken Knoten überzogen. »Alles, was wir tun, ist gegen den Willen von Dr. Karipuri. Er hat angeordnet: ein Tag wie jeder andere.«
    »Er hat Angst!« schrie der Mann auf den Krücken. »Da kommt einer, der mehr kann als er! Brüder und Schwestern! Was ist bisher für uns getan worden? Seht eure Körper an! Aber jetzt wird es anders werden, ganz anders!«
    Um zwölf Uhr, nach dem Mittagessen, quollen die Kranken aus den Hütten und marschierten zu dem großen Palisadentor des Dorfes. Die Frauen behängten sich mit Blumenketten und trugen selbstgeflochtene Körbe mit Blüten auf die Straße. Auf die breite Veranda des Hospitals rollten die Pfleger die Schwerkranken in ihren Betten. Unter den Pflegern war auch Siri mit gestärkter Schürze und steifem Häubchen. Nur die Sterbenden ließen sie zurück, aber sie stießen die Fenster auf, damit auch sie noch den Jubel hören konnten, die Begrüßung der Hoffnung, die für sie zu spät kam.
    »Sie sind verrückt geworden«, sagte Dr. Karipuri auf der Terrasse des Verwaltungsgebäudes. »Total verrückt. Sehen Sie sich das an,

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