Engel der Vergessenen
neue Maiskolben über dem Feuer. Für Dr. Karipuri war dieser junge Bursche eine Art Alibi. Wenn irgendwo in Rangun ein eifriger Beamter Zweifel an den Erfolgen der Therapie von Nongkai hegte, schickte das Hospital Fotos und Röntgenbilder dieses Leprösen an das Ministerium für Gesundheit. Nur – man änderte jeweils den Namen und das Alter und fügte jedes halbe Jahr eine Erfolgsstatistik bei. Die nahm sich großartig aus, so daß man in Rangun glaubte, in der Bekämpfung der Lepra die führende Rolle vor allen Staaten der Welt zu spielen.
»Wenn er kein Idiot ist, wird er schnell merken, daß hier nichts stimmt«, sagte Dr. Karipuri.
»Er wäre ein Idiot, wenn er es merkte!« Taikky lächelte listig. »Er ist allein, er ist ein Fremder. Wie sagen die Chinesen? ›Ein Held mit einem Bambusstock ist weniger als eine Biene mit einem Stachel.‹ Wir sollten uns keine Sorgen machen, Ratna. Im schlimmsten Fall bieten wir ihm zehn Prozent.«
»Im schlimmsten Fall altert er hier sehr schnell.« Karipuri zerbröckelte seinen gerösteten Maiskolben. Seine Appetitlosigkeit hatte eingesetzt, als die erste Funkmeldung über Dr. Haller eintraf, und sie steigerte sich, je näher die Stunde kam, in der der neue Arzt eintreffen mußte. »Als Deutscher wird er gründlich sein. Er wird Medikamente anfordern, die wir laut Listen längst hier haben, und Geräte, die als aufgestellt und in Tätigkeit gemeldet sind. Hier liegt die Gefahr!«
»Er ist Ihr Stationsarzt. Sie sind sein Chef, Ratna! Sie können ihn arbeiten lassen, bis er auf dem Bauch kriecht.«
»Aber ich kann ihn nicht blind machen …«
»Warum nicht? Welch eine Idee, Ratna.« Taikky hob anerkennend sein Glas. »In Ihnen steckt doch ein Genie. Wie ist es in diesem Land mit der infektiösen Augenkrankheit? Na? Wen wird es wundern, wenn ein ausländischer Arzt von dieser Infektion befallen wird?« Taikky trank einen Schluck und seufzte zufrieden. »Einigen wir uns dahin, Ratna – sieht er zuviel, wird er blind. Spricht er zuviel, wird er stumm.«
»Es wäre einfacher, wenn er sich im Dschungel verliefe.«
»Warten wir ab! Was ist, wenn er ein Auge der Regierung ist? Daß man so gar nichts über ihn weiß, macht mich nachdenklich. Plötzlich ist er da. Als ob man eine Schublade aufzieht, und eine Schlange springt einem entgegen. Wir sollten vorsichtig sein.«
Während im Verwaltungsgebäude über das Schicksal Dr. Hallers bereits Pläne gemacht wurden, rüstete sich das Dorf zum Empfang des neuen Arztes.
Streng nach demokratischen Richtlinien aufgebaut, hatte Nongkai eine Art Selbstverwaltung, einen Bürgermeister, einen Ältestenrat, eine Polizeitruppe, ein Volksgericht und eine wahlberechtigte Vollversammlung. Bürgermeister war der sechzigjährige Hano Minbya, ein kleiner, krummbeiniger Mann, dem die Lepra die Nase zerstört hatte und der eine schwarze Klappe an einem Gummiband um das Gesicht trug. Die Klappe verdeckte das Loch, wo einmal die Nase gesessen hatte.
Hano Minbya war einer der ältesten Leprösen von Nongkai, und als nach dem Verlust der Nase nichts mehr an ihm abfaulte, glaubte er schon, er sei gerettet. Man entließ ihn auch, aber nach zwei Jahren kam er wieder, zeigte seinen linken kleinen Finger, an dem sich warzige, rötlich-schwarze Knoten gebildet hatten, und sagte:
»Es geht wieder los. Ich weiß, daß ich hier sterben werde. Laßt mich hier. Ich habe meine Familie mitgebracht – sie will mich nicht mehr allein lassen.«
So zogen mit Hano Minbya auch seine Frau Sitra und seine Tochter Siri in das Lepradorf. Sie bauten ein festes Haus aus dicken Stämmen. Die Dorfversammlung wählte Minbya zum Bürgermeister, denn wer Nongkai so liebt, daß er Frau und Kind mitbringt, ist ein guter Mensch, auch wenn man ihn nicht versteht.
Siri, das Mädchen, wuchs heran. Niemand begriff, wie aus den Lenden des alten, krummen Hano und dem Schoß der völlig verhutzelten Sitra eine solche Schönheit herauskommen konnte. Siri war groß und schlank, mit langen, geraden Beinen, spitzen Brüsten und glänzenden schwarzen Haaren, in die sie sich einwickeln konnte wie in einen Mantel. Ihre großen schwarzbraunen Augen beherrschten das schmale feine Gesicht.
Jeder, auch Minbya selbst, sah ein, daß es unverzeihlich war, Siri im Dorf der Leprösen zu behalten. Immer wieder flehte ihr Vater sie an, Nongkai zu verlassen und unter die Menschen zu gehen. Der Ältestenrat beschloß eine Sammlung. Es kam so viel Geld zusammen, daß Siri in die Stadt hätte ziehen
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