Engel der Vergessenen
Belagerungsmaschinen, ihre Steinschleudern und Rammböcke an die Tore herangefahren hatten, als sie die Tortürme von Massada aufbrachen und durch die Bresche hineinstürmten – fanden sie nur Tote. Die Menschen von Massada hatten sich gegenseitig umgebracht, um nicht die Schande der Niederlage zu erleiden. Neunhundertsechzig Männer, Frauen und Kinder lagen tot auf den Straßen – und als Flavius nicht als Sieger, sondern in tiefem Entsetzen durch die Straßen ging, kamen ihm die einzigen Überlebenden entgegen: eine alte Frau, ein junges Mädchen und fünf Kinder. Sie waren beim gemeinsamen Sterben vergessen worden. – Brüder und Schwestern! In Nongkai wird keiner vergessen werden! Lasset uns beten zu dem gemeinsamen Gott: Herr im Himmel, nimm uns gnädig auf!«
Vom Dach der Kirche scholl dumpf die Glocke von Nongkai, der klagende Ton aus dem riesigen ausgehöhlten Kürbis.
Adripur und Bettina arbeiteten noch immer im Hospital. Sie standen nebeneinander im OP und mußten einen aufgeplatzten Amputationsstumpf nachoperieren und vernähen.
»Was werden Sie gleich machen?« fragte Adripur. Bettina hielt den Beinstumpf mit beiden Händen hoch, die Naht war gleich geschafft. Adripur arbeitete schnell und sicher, er war ein guter Arzt, aber er hatte bisher wenig Gelegenheit gehabt, das zu zeigen.
»Und Sie?« fragte sie ausweichend zurück.
»Ich werde mit ihnen sterben. Ich gehöre zu ihnen. Aber Sie nicht. Wenn Nongkai brennt und sich alle gegenseitig umbringen, bleiben Sie hier im Hospital. Niemand wird Ihnen etwas tun.« – »Und Dr. Haller?« Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war farblos vor Angst. »Was werden sie mit ihm machen?«
»Wer weiß das? Sie kennen Haller jetzt. Vielleicht stirbt er mit, vielleicht bringt man ihn um, vielleicht umarmt ihn Siri mit zwei Messern in den Händen: der berühmte asiatische Todeskuß.«
»Er liebt Siri, nicht wahr?«
»Auch das weiß niemand genau. Aber für Siri ist er Himmel und Erde, Sonne und Mond.«
»Es muß schön sein, so lieben zu können«, sagte sie leise. Sie arbeiteten weiter. Pala stand im Hintergrund und wartete auf das Ende der Operation. Er trug einen krummen Malaiendolch im Gürtel, sein dunkelbraunes Gesicht war völlig ausdruckslos.
Gegen Mittag erst hielt die Kolonne der Soldaten aus Homalin in sicherer Entfernung von den Palisaden. Karipuris Jeep fuhr an der Spitze, hinter ihm saß der Kommandant, ein Major, in einem offenen Funkwagen und sprach mit seinem Vorgesetzten in der Garnison von Bhamo.
Die Soldaten blieben in ihren Wagen, nur Karipuri und der Major, der zu dem Arzt umstieg, näherten sich langsam dem geschlossenen Tor. Über dem Palisadenrand sah man die Köpfe der Verteidiger von Nongkai. Die Pfeile lagen auf den Bogensehnen. Vom Kirchendach blies der Küster Alarm. An den entferntesten Stellen des Dorfes wußte man jetzt, daß man sich zum Sterben bereithalten mußte.
Das Palisadentor schwang auf. Karipuri bremste, der Major schwenkte ein weißes Taschentuch.
»Darf ich hinein?« rief er.
Es war entwürdigend, aber was Karipuri ihm erzählt hatte, saß in ihm, als sei er schon von einem Leprapfeil getroffen worden. Ihm war klar, daß keiner seiner Soldaten in die Schußweite der Bogen kommen würde. Es war auch gar nicht seine Absicht, das zu befehlen. Seine Instruktionen aus Lashio und Bhamo lauteten anders.
In dem freien Raum hinter dem Tor erschien Dr. Haller. Er war allein. Eine fabelhafte Zielscheibe. Man brauchte nur schnell anzulegen und abzudrücken. »Kommen Sie herein!« rief er. »Wer sind Sie?«
»Major Donyan, Doc.«
»Ich heiße Sie willkommen, Major.«
Langsam fuhr der Jeep durch das Tor. Major Donyan blickte sich um. Leiter an Leiter, darauf die Männer mit Bogen, Pfeilen und Lanzen. Und nicht nur Männer, auch Frauen, Kinder und Mädchen.
Er zog wie frierend die Schultern hoch, sprang aus dem Jeep und kam Dr. Haller mit ausgestreckten Händen entgegen.
»Ich habe einen Auftrag zu erfüllen, Doc«, sagte Donyan und hielt Hallers Hände fest. »Mit einem Gruß des Gesundheitsministers aus Rangun. Ich bringe Ihnen dreihundert Kisten und Kartons mit Verbandmaterial und Medikamenten.«
Donu Taikky saß, wie gewohnt, in seinem breiten Korbsessel auf der Veranda des Verwaltungsgebäudes. Fett, unbeweglich. Er hatte sich mit Obst und Fruchtgetränken umgeben. Eine fahrbare Theke hielt eisgekühlte Flaschen mit Whisky und einem kambodschanischen, höllisch brennenden Schnaps bereit. Zwei Boys in Festkleidung standen
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