Engel der Vergessenen
der psychologischen Kriegführung. Ein Soldat ist bereit zu sterben, aber er ist nicht bereit, sich mit Lepra infizieren zu lassen. Auch das Sterben hat seine Kategorien.
»Sie sind ein Teufel!« sagte Karipuri mit Mühe.
»Ich bin so überwältigt wie Sie, Karipuri.« Haller starrte hinüber zu Siri und Bettina. Sie halfen mit, die Pfeile zu präparieren. So etwas kann sich kein Europäer ausdenken, dachte Haller. Oder doch? Modernste Kriegführung im hinterindischen Dschungel! Wie steht es denn mit jenen Bakterienbomben, die bei den Großmächten jederzeit einsatzbereit in unterirdischen Betonbunkern lagern? Er breitete hilflos die Arme aus. »Wer kann das alles jetzt noch verhindern?«
»Sie! Rufen Sie diese Leute zur Vernunft!«
»Dann rufen Sie die Soldaten zurück!«
»Das geht nicht mehr. Sie sind unterwegs. Wir können keine Funkverbindung mit ihnen aufnehmen.«
»Dann fahren Sie der kleinen Armee entgegen und erzählen Sie ihr, was sie hier erwartet. Eine Wolke aus Milliarden Leprabazillen.«
Dr. Karipuri verfolgte ohnmächtig die Vorbereitungen zur Verteidigung Nongkais. Frauen waren zu den Hütten gerannt und häuften Reisigbündel an die Flechtwände. Das sollte das Ende werden, ein loderndes Fanal: In einem Flammenmeer ertrank Nongkai mit Frauen, Kindern und Greisen. Wegen eines einzigen Arztes, ihrem ›Engel‹.
»Ich werde den Soldaten erzählen, daß die Infektionsgefahr, auch wenn sie von den präparierten Pfeilen getroffen werden, nur eins zu hundert ist – wenn nicht noch geringer.«
»Wer wird Ihnen das glauben? Was bei uns im Mittelalter die Cholera und die Pest waren, ist hier die Lepra. Die Angst sitzt seit Generationen tief verwurzelt in diesen Menschen – diese Angst treiben Sie nicht mit statistischen Zahlen aus! Los, Karipuri, hinein in den Jeep und der Kompanie entgegen! Ich versichere Ihnen: Es täte mir leid, wenn ein einziger dieser Pfeile abgeschossen werden müßte. Was ich hier tun kann, werde ich tun.«
»Was können Sie denn machen?« Taikky hatte sich mit großem Interesse das Präparieren der Waffen angesehen. Jetzt kam er zurück, machte einen kleinen Bogen um die toten Brüder Khawsa und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie stecken doch in einem Teufelskreis, Haller. Sie wollen freiwillig gehen. Dann bringt sich das Dorf selbst um. Sie sollen abgeholt werden, dann gibt es auch ein Blutbad. Was Sie auch machen – es ist immer falsch. Selbst wenn Sie hierbleiben, ist das eine fatale Entscheidung. Sie wissen, daß man auf die Dauer dem Unglück nicht davonlaufen kann. Und einmal erwische ich Sie. Dafür habe ich die ganze Nacht gebetet!«
»Ich will kein Blutvergießen. Ich hasse jegliche Gewalt. Ich schlage nur zurück, wenn man mich angreift. Taikky, was auch zwischen uns ist und immer sein wird: Tun Sie alles, um diese sich abzeichnenden Gräßlichkeiten zu verhindern. Mir ist Nongkai aus den Händen geglitten.«
»Und Sie? Was wird aus Ihnen?«
Haller sah sich um. Noch immer zogen die Männer mit den Waffen an den Leprösen vorbei. »Ich verlasse Nongkai nicht.«
»Das ist schön.« Taikkys Gesicht verzog sich zu einem ekelhaften Grinsen. »Sie bringen mich also nicht um den Genuß, jeden Tag an meine süße Rache zu denken.«
Haller verbeugte sich leicht. »Es freut mich, Sie etwas aufheitern zu dürfen, Taikky. Das Leben im Dschungel bietet wirklich wenig Abwechslung.«
Karipuri und Taikky zogen sich zurück. Der Arzt lud den Direktor vor dem Verwaltungsgebäude ab und verließ Nongkai, um den Truppen entgegenzufahren.
Die Schwerkranken wurden wieder ins Hospital gerollt. Nach einem Plan, den Minbya und der Ältestenrat in der Nacht noch ausgearbeitet haben mußten, verteilten sich die Männer, Frauen und Kinder rund um das Dorf hinter den hohen Drahtzaun. Die besten Schützen besetzten die lange Frontpalisade. Sie standen auf schnell gezimmerten Leitern und legten sich Speere und Bogen auf dem Palisadenrand zurecht.
Dr. Adripur und Bettina waren im Verbandszimmer des Hospitals und wechselten die Verbände der Amputierten. Der Prediger Manoron hatte einen Sondergottesdienst für alle Konfessionen angesetzt.
In der kleinen Kirche drängten sich die Gläubigen – Christen, Buddhisten, Heiden –, und Manoron erzählte mit dramatischer Stimme die Geschichte der jüdischen Festung Massada am Toten Meer, die im Jahre 73 von den Römern unter Flavius Silva acht Jahre lang belagert worden war. »Und als sie Türme gebaut und auf Rampen ihre
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