Engel des Vergessens - Roman
schneiden und den Schneebruch aus den Kronen zu entfernen. Er wirkt wie ein altes Kind, das liebend gerne den Tag im Baum verbringen würde, aber wegen der Sturzgefahr wieder von der Holzleiter heruntersteigen muss. Mit Beginn des Sommers muss er sich geschlagen geben und im Bett bleiben. Er wird an das Sauerstoffgerät angeschlossen. Ohne Sauerstoff gelingt es ihm gerade noch, zur Toilette oder ins Bad zu gehen. Mutter und Bruder haben ihm ein Bett in die Wohnstube gestellt, damit er am Alltagsleben teilnehmen kann und die Besucher ungehindert neben ihm Platz nehmen können, ohne das Gefühl zu haben, in einem Krankenzimmer zu sitzen. Auf einem Tischchen, das Mutter neben dem Bett platziert hat, stapeln sich Medikamentenschachteln. Vater ist es zuwider, von Mutter gepflegt zu werden, aber Mutter hat sich vorgenommen, ihn zu umsorgen. Ob er will oder nicht, ob sie will oder nicht, sie glaubt, ihrer Pflicht nachkommen und die Nähe, die durch die Krankheit entsteht, aushalten zu müssen.
Vater hat starke Schmerzen. Sein Gesicht ist von den Medikamenten leicht aufgedunsen, seine Hände dagegen sind zarter und weicher geworden. Wenn er sich im Bett aufsetzt, blickt er uns an wie ein lächelnder Ertrinkender, der mit dem Kopf aus dem Wasser ragt in der Gewissheit, bald unterzugehen. Er will seinen Hof nicht überschreiben, er sei ratlos, erwidert er auf mein Drängen, er sehe keine Zukunft für die Hube und möchte nicht über den Niedergang seiner Landwirtschaft nachdenken. Wir sollten uns nach seinem Tod einigen.
Er beginnt sich für meine Arbeit zu interessieren und stellt Fragen, was ich denn im Theater mache, worin die Aufgabe einer Dramaturgin bestehe, ob ich genug verdiene, ob das Kärntner Publikum unsere Arbeit mag. Einmal berichtet er, dass er sich die Aufzeichnung der Oper Nabucco im Fernsehen angesehen habe. Eine Übertragung aus der Staatsoper, sagt Vater, aus der Wiener Staatsoper! In einer Szene habe man die Fotos von ermordeten Wiener Juden auf Tafeln hochgehalten. Das habe ihm sehr gefallen, denk dir, der Wiener Juden, sagt er.
Wenn wir an Sonntagen um den alten Bauerntisch sitzen und die Nudelsuppe löffeln, sieht er uns zu, schüttelt den Kopf und sagt mit gespieltem Ernst, ihr seid alle Trottel, lauter Trottel! Unsere Suppenlöffel bleiben für einen Augenblick in der Luft stehen. Ich muss laut lachen, was ihn besonders freut, vor allem, weil Mutter das Gesicht verzieht.
Vater wird nur lebhaft, wenn seine Cousinen und Cousins zu Besuch kommen. Er lässt sich von den leichtsinnigen Verwandten sogar zum Harmonikaspiel überreden, das ihn vollends erschöpft. Aber was macht man nicht alles, um der Krankheit ein Schnippchen zu schlagen, denkt er sich, auch wenn ihm nach der ausgiebigen Feier nur ein leidvolles Grinsen übrig bleibt, das er seinem Gesicht kaum noch abzupressen vermag. Er kann nicht mehr Karten spielen, aber er schaut den Karten spielenden Söhnen und Nachbarn gern zu. An Wochenenden lässt er sich von Bertl, seinem Nachfolger als Jäger, berichten, was es im Jagdrevier Neues gebe, welches Tier er beim Äsen erblickt habe oder was man gegen den Wildverbiss unternehmen werde.
Einmal ist Vaters Cousine Kati auf Besuch, die sich mit Mutter für einen Gesangsauftritt vorbereitet. Die Frauen haben ein Duo gegründet, um auf Veranstaltungen ihre eigenen vertonten Gedichte vorzutragen, um Marienlieder und Partisanenlieder zu singen.
Mutter ist wie Kati dazu übergegangen, ihre Gedichte zu vertonen und von einem Buch zu träumen. Ich möchte einmal ein eigenes Buch haben, sagt sie, wenn sie mir wieder einen ihrer Texte oder einige Gedichte zum Lesen über den Tisch schiebt.
Vater sagt, als ich ihn an diesem Tag frage, wie es ihm gehe, wie soll es mir schon gehen. Ich höre seit zwei Stunden den Frauen zu, die neben mir proben. Das ist nicht gerade erbaulich.
Mit euren Stimmen werdet ihr die Leute in die Flucht schlagen, höhnt er. Nach so einem Geheul wird sich die Menge gelichtet haben. Sei du jetzt still und nimm den Mund nicht so voll, fährt ihn Kati an. Sollen wir euch was vorsingen?
Ja, sagt Vater übermütig, das Lied von Katrca würde er gerne noch einmal hören. Die Frauen stellen sich an das Fußende des Krankenbetts und beginnen mit dem Lied: Pihljaj vetric mi hladan doli na Koroško plan, tam, kjer dom moj prazen zdaj stoji, hiti tja oj vetric ti! Ne bom njegovega vec vinca pil, v njegovi senci se ne bom hladil, njegove njive ne bom vec oral, le nesi zadnji mu pozdrav! Ko boš
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