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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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kann, sagte sie.
    Im Archiv finde ich die Einlieferungsliste vom 13. November 43 abends, Name und Häftlingsnummer meiner Großmutter, die Namen der Nachbarinnen, der Paula Maloveršnik, der Bauersleute Pegrin, der Kach-Frauen, Maria und Anna Rotter, Polinnen, Jüdinnen, eine Tschechin, ich finde die Einlieferungsliste vom 30. November 43, der Tag, an dem Mici nach Ravensbrück gebracht wurde. Sie wurde gemeinsam mit 64 Frauen über Leipzig, mit einem Schutzhaftgefangenentransport wegen Überfüllung des Leipziger Polizeigefängnisses im Sondertransport nach Fürstenberg überführt. Mit ihr Frauen aus Lickov, Dnjepropetrovsk, Krowno, Krasnodar, Kursk, Glauchau, Karlsbad, Wurzen, Kaliningrad, Prag, Ebensee, Wien, Pörtschach, aus Ebriach, aus Lepena, aus Koprein und Waidisch, die Kölich Magdalena, die Mozgan-Bäuerin, Paul Maria und ihre Tochter, Paul Amalia, die Grubelnik Johanna aus Ebriach. Ich finde Malka im Blockbuch sechzehn bei den Polinnen untergebracht.
    In Ravensbrück trafen die Frauen aus den Gräben mit den Frauen aus ganz Europa zusammen, vom Kärntner Rand in ein Zentrum des Krieges geschleppt, in dem sich die Lebenswege der Europäerinnen kreuzten, aus der Kärntner Abgeschiedenheit zu einem Todesbrennpunkt gebracht. Was hatten die Frauen aus den Gräben mit den Polinnen, Tschechinnen, Jüdinnen aus Italien, Rumänien, Ungarn, mit den Französinnen, Belgierinnen, mit den Russinnen, den Ukrainerinnen, den Zigeunerinnen, den Kroatinnen, Lettinnen, mit den Österreicherinnen, den Volksdeutschen, den Norwegerinnen, den Serbinnen, den Sloweninnen, den Holländerinnen und den Däninnen gemeinsam, was könnten sie erzählen, ausgehend von diesem Ort, an dem sie die Ausmaße des Krieges begriffen hatten? Ich will mir vorstellen, dass die Lagerfrauen mehr Verbindendes anführen könnten, als nationale Geschichtsschreibungen je zu formulieren und zu denken wagen.
    Ich verlasse das Lagergelände. Keine Erleichterung stellt sich ein, als ich das Tor der Kommandantur hinter mir zufallen lasse, kein Aufatmen, kein Trost. Das ist der Ort, der in Großmutter wirkte, in dessen Magnetfeld sie lebte, an dem sie sich orientierte, der sie bestimmte und ihre Empfindungen an sich zog. Nun verliert sich der Spuk hinter meinem Rücken, eine verschwindende Erscheinung, eine sich an den Rändern auflösende, brüchige Oberfläche, unter der die Geschichte dunkel wird, in der Großmutters Erzählungen klingen wie Echos aus lange vergangener Zeit.
    Der Engel der Geschichte wird über mich geflogen sein. Seine Flügel werden einen Schatten auf das Lagergelände geworfen haben. Ich habe sein entsetztes Antlitz im Halbdunkel nicht sehen können, nur kurz geglaubt, einen Flügelschlag gehört zu haben, einen Windstoß in seinen Engelsflügeln vernommen zu haben, in denen sich die Stürme des Kommenden verfingen.
    Für einen Moment fühle ich mich wie ein Kind, das der Zeit davongelaufen ist, der Zeit, die hinter mir wie ein unsichtbarer, behäbiger Gletscher über alles gleitet, was sich je ereignet hat, die alles, was unverrückbar schien, unter sich begräbt, zermalmt und zerreibt. Mit jedem Schritt trete ich tiefer in die Gegenwart, stoße und pralle auf mich, kann meine Stimme vernehmen, die Stimme einer Bekannten, die aus dem Wirrwarr der Sätze lange nicht aufgetaucht ist, die sich verborgen hielt.
    Der Engel des Vergessens dürfte vergessen haben, die Spuren der Vergangenheit aus meinem Gedächtnis zu tilgen. Er hat mich durch ein Meer geführt, in dem Überreste und Bruchstücke schwammen. Er hat meine Sätze auf dahintreibende Trümmer und Scherben prallen lassen, damit sie sich verletzen, damit sie sich schärfen. Er hat die Engelbildchen über meinem Kinderbett endgültig entfernt. Ich werde diesen Engel nicht zu Gesicht bekommen. Er wird keine Gestalt haben. Er wird in den Büchern verschwinden. Er wird eine Erzählung sein.
    * * *

Nach vielen Jahren kommt Großmutter wieder in meinen Traum. Ich habe sie nicht erwartet und fühle mich ertappt. Sie sitzt auf dem Waldweg hinter unserem Haus und hat aus der Wolle, die sie gesponnen hat, trichterförmige Baldachine gewebt, die aussehen wie Nervenzellenbäume, mit denen sie Stimmen einfängt. Sie sagt, ein paar Stimmen seien ihr schon ins Netz gegangen. Man müsse nur geduldig sein und die Hoffnung nicht aufgeben. Die gesponnenen Trichter sind größer als sie. Ich trete zu ihr. Großmutter gibt mir mit der Hand zu verstehen, dass ich leise sein soll. Nicht so laut, sagt

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