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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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eingefroren ist. Der Himmel ist ein Gletscher, in dem der Talgraben als Fata Morgana erscheint. Kristallrändern gleich ziehen sich Lichtrisse durch die Eisfläche. Ein gefrorener Luftpanzer hat das Tal eingeschlossen, das darunter liegt und in der Enge verharrt. Über die Eisfläche kriechen Krabben, Schnecken, Quallen, Egel, Würmer und scheckige Amphibien. Das Wasser, das sich in Kristallverkleidung über die Hügel, die Bäume und die Anwesen gelegt hat, sich schützend, locker und flockig an alles geschmiegt hat, kommt in Bewegung. Im nächsten Moment, beim leisesten Windhauch, wird es verdunsten, verwehen, zerstieben und abfließen, denke ich. Nichts kann bleiben, wie es ist.
    Später höre ich von unten aus dem Graben ein immer lauter werdendes Rauschen heranbrausen und sehe plötzlich das Wasser steigen. Ich sage zum Bruder, komm, wir müssen weg, wir müssen das Haus verlassen! Wir eilen hinauf in den Wald, über den Hang mit den alten Zwetschkenbäumen, wie damals, als uns Vater mit dem Gewehr verfolgte. Wir beobachten, wie sich das Haus mit Wasser füllt, hören den Erzkörper tief unten in der Masse des Berges zusammenbrechen. Die Lagerstätten sind gelöscht, nichts wird mehr aufgefahren, die Stollen sind abgesoffen. Dann fließt das Wasser ab, und wir kehren in unsere Wohnräume zurück. An den Wänden zeichnen sich Wasserränder und Erdschlieren ab, die Überflutung hat sich an die Wand gemalt. Die Fenster sind geschlossen und die Scheiben unversehrt. Ich wundere mich, dass die Fenster den Wassermassen standhalten konnten, und sage zum Bruder, wir müssen aufräumen, alles aufräumen!
    * * *

Nach Vaters Begräbnis verwandelt sich mein Nachdenken in eine Benommenheit.
    An seinem Grab stehend ringe ich mich zum gewohnten Schweigen durch, zum Offengelassenen, das unsere Gespräche bestimmte.
    Zu Hause sitzen wir einander gegenüber, jedes der Geschwister mit seinem eigenen Vater beschwert, jedes mit seiner eigenen Vaterfigur um den Hals, und starren uns an, müde vom Vatergewicht, erschöpft von den Geschichten und Erinnerungen, die sich, wenn wir sie einander erzählen, immer anhören wie Vorwürfe, du weißt überhaupt nicht, oder, du hast keine Ahnung, was Vater und ich, und so weiter. Auch das, die unterschiedlichen Nachklänge und Empfindungen, das wechselnde Aufbegehren, Trauer gemischt mit Enttäuschung.
    Mutter ist auf dem Höhepunkt einer Monate, wenn nicht Jahre dauernden Erschöpfung angelangt, die sie wieder angespannt und auffahrend im Haus herumgehen lässt. Sie glaubt es überstanden zu haben, glaubt, an einem Ende angekommen zu sein. Sie fühlt sich zuständig für alles und von uns als Zeugen ihrer Anstrengungen nicht ausreichend gewürdigt. Sie hat Vater in den Tod begleitet. Ihr habe sein letzter Blick gegolten, sagt sie und schüttelt sich vor Entsetzen, vor all dem Unlösbaren und Unaussprechbaren.
    Ich Vaterkind und mein Kindvater, lächerlich, einfach nur lächerlich, mich und mein Leben seinetwegen an die Vergangenheit, an den alten Schmerz zu ketten, mich aufs Spiel zu setzen, überlege ich und möchte alles unangetastet lassen, das Verdrängte, das Verpflichtende, das Belastende von mir schieben. Es soll eine Zeitlang herumliegen können, beschließe ich, und vor sich hin altern.
    Aber ich werde nicht in Ruhe gelassen. Ich lerne im selbstvergessenen Kärnten nicht vergessen zu können. Der Boden, auf dem ich stehe, muss eine unsichtbare Unterseite haben, die vollgesogen ist mit Gewesenem, aus dem ich zu wachsen scheine, auf das ich zurückgeworfen werde. Immer wiederkehrend, verfällt das Land in einen Taumel, in dem es eine Geschichte beschwört, die nichts anderes ist, als ein Rechtfertigungsphantom, mit dem es sich auf der richtigen Seite wähnt. Alle, die unter die Räder des Nationalsozialismus gekommen sind, bleiben aus diesem Selbstbild ausgeschlossen.
    Manchmal schrecke ich in Gedanken auf, alles ist noch da, denke ich, alles. Alles schwärt unsichtbar oder sichtbar, hörbar oder unhörbar in mir und um mich, als sei ich eine blinkende Bewusstseinsmikrobe, ein Rad, das zur Kette wird und zum springenden Ball, ein Feld, das aufblüht oder zerfällt. Ich scheine im Zentrum des Gegensatzes festzustecken, den der Nazismus und der Widerstand gegen ihn in den Menschen dieses Landes bewirkt haben, der absolut ist wie der Schmerz. Es fühlt ihn nur derjenige, der ihn erleidet.
    * * *

In Vaters Nachtkästchen, in dem auch seine ausgediente Klarinette liegt, finde ich Micis

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