Engelsfluch
war, um aufzupassen. Aber er hatte sich dagegen entschieden.
Ein Gotteshaus hatte nach seiner Vorstellung für jedermann offen zu sein, von morgens bis abends. Jetzt war wieder alles ruhig. Schlug vielleicht irgendwo ein Fensterladen im Wind?
Wenn er wegen so etwas die Polizei rief, machte er sich nur lächerlich. Dottesio gab sich einen Ruck und ging in die Sakristei. Nein, die Fensterläden waren geschlossen. Durch ihre Ritzen fiel genügend Licht, um den Raum in einen ungewissen Dämmer zu tauchen. Die Schränke und der große Tisch in der Mitte hatten im Zwielicht verwischte Konturen, als gehörten sie nicht ganz zu dieser Welt. Am Ende des Raums, wo der schmale Durchgang zur Kirche war, glaubte Dottesio, eine Bewegung wahrzunehmen.
»Ist da jemand?«, fragte er vorsichtig, als könne er mit einer zu lauten Stimme einen ungebetenen Gast verschrecken. Er erhielt keine Antwort und ging langsam zum Durchgang.
Erleichtert stellte er fest, dass er allein hier war. Vielleicht hatte ihn der Bericht über die Kirchenspaltung zu sehr aufgewühlt, und er sah deshalb Gespenster. Er entschloss sich, noch einen kurzen Blick in die Kirche zu werfen und dann schnell in seine Wohnung zurückzukehren, vor den Fernseher. Er wollte nichts verpassen, falls es Neuigkeiten zu dem ungeheuerlichen Vorgang der Kirchenspaltung gab, vielleicht gar eine erste Stellungnahme aus dem Vatikan. Aus dem Halbdunkel der Kirche kam ihm ein kalter Luftzug entgegen, der ihn frösteln ließ, obwohl dieser September Rom mit sommerlichen Temperaturen beglückte. Kirchen waren fast immer kalt und dunkel, und zum ersten Mal in seiner langen Laufbahn als katholischer Geistlicher fragte er sich, warum das so war.
Brauchte das göttliche Mysterium den diffusen Schleier des Halbdunkels, und war das Frösteln notwendig, um den Menschen Respekt einzuflößen? Wenn die Menschen, um die es ging, wirklich gläubig waren, sollte das eigentlich unnötig sein.
Während er sich solchen abstrakten Überlegungen hingab, betrat er das Kirchenschiff, wo ungefähr zwei Dutzend Opferkerzen still vor sich hin flackerten. Niemand war hier, um zu beten, was ihn nicht verwunderte. Vermutlich saß ganz Rom vor dem Fernseher.
Auch Dottesio wollte sich die Sondersendung weiter ansehen.
Doch als er sich zur Sakristei umwandte, sah er sich etwas Fremdem gegenüber. Ein Schatten, dunkler noch als die Dämmerung in der Kirche, kam über Dottesio und riss ihn in die absolute Finsternis.
Sandrina Ciglio wunderte sich über die wenigen Menschen, denen sie begegnete, während sie mit schleppenden Schritten durch die alten Gassen von Trastevere ging. Je länger sie unterwegs war, desto weniger Menschen begegnete sie. Dabei war dieser Septemberabend wie geschaffen dafür, auf den Balkons und vor den Haustüren zu sitzen und sich über Gott und die Welt und vor allem über die jüngsten Steuererhöhungen zu unterhalten. Sie war eine alte Frau, aber sie konnte sich nicht erinnern, die engen Gassen, in denen sich die Menschen normalerweise drängelten, jemals so leer gesehen zu haben. Als sie an einer Bar vorüberkam, bemerkte sie durch das große Fenster mit der Werbeaufschrift »New York Caffe«, dass sich die Menschen dort um den Fernseher scharten. Sie konnte nicht erkennen, was für ein Programm lief, aber vermutlich war es ein wichtiges Fußballspiel von Lazio oder AS Roma. Was sonst konnte die Römer davon abhalten, diesen lauen Sommerabend an der frischen Luft zu genießen?
Sandrina hatte sich kein Fußballspiel mehr angesehen, seit ihr Mann Ernesto vor acht Jahren gestorben war, und so kümmerte sie sich nicht weiter um den Auflauf in der Bar. Sie war lange am Tiber spazieren gegangen und hatte dann Ernestos Grab besucht, wie sie es jeden Abend tat. Jetzt spürte sie, wie ihre alten Beine zu schmerzen begannen. Aber sie wollte nicht in ihre kleine Wohnung an der Piazza Mastai heimkehren, ohne für Ernesto eine Kerze angezündet zu haben. Auch das war eine tägliche Gewohnheit – jedenfalls war es zu einer solchen geworden. Anfangs hatte es ihr wie die Besuche auf dem Friedhof geholfen, über den Verlust hinwegzukommen. Jetzt waren es Rituale, die zu ihrem Leben gehörten wie das Rosinenbrötchen zum Frühstück oder der sonntägliche Besuch bei ihrer Tochter Arietta und deren Familie.
Die kleine Kirche Santo Stefane in Trastevere tauchte erst im letzten Augenblick vor ihr auf. Fast gänzlich von großen, wuchtigen Wohnhäusern umgeben, gewährte nur ein winziger Vorplatz
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