Engelsfluch
Vatikanjournalist zweifellos Recht gehabt – jedenfalls bis heute.
Als Norina ihre Gäste vorstellte, hörte Dottesio nur mit einem Ohr hin. Seine Erinnerung trug ihn zurück zu jenem unglaublichen Ereignis Anfang Mai, das die Medien als
»Gardemord« bezeichnet hatten. Damals waren der Kommandant der Schweizergarde und seine Frau in ihrer Wohnung mitten im Vatikan ermordet worden. Als Mörder galt ein junger Gardist, dessen Leiche man ebenfalls in der Wohnung des Ehepaars fand. Man nahm an, dass der Gardist, ein gewisser Marcel Danegger, seinen Vorgesetzten aufgrund dienstlicher Differenzen getötet und sich dann selbst gerichtet hatte. Die Frau des Ermordeten hatte sterben müssen, weil sie zufällig anwesend war. So weit die offizielle Version, die der Vatikan damals an die Öffentlichkeit gab. Die Kirche hatte kein Interesse an einem Skandal, war doch erst kurz zuvor ein neuer Papst, Custos, gewählt worden, dessen unorthodoxe Ansichten und Angewohnheiten schon für genug unliebsames Medieninteresse sorgten. Aber schnell wurde klar, dass der angebliche Mörder Danegger auch nur ein Opfer war und dass etwas ganz anderes, Größeres und Fürchterlicheres, hinter dem dreifachen Mord steckte. Aufgeklärt hatten das der Neffe des ermordeten Gardekommandanten, der Schweizergardist Alexander Rosin, und die Vatikanjournalistin Elena Vida. Und diese beiden saßen jetzt im Fernsehstudio bei der ewig lächelnden Norina. Noch immer liefen Giovanni Dottesio Schauer über den Rücken, wenn er an die Enthüllungen dachte, die im Frühsommer nicht nur Rom und den Vatikan, sondern die gesamte Christenheit erschüttert hatten. Selbst für ihn als Geistlichen war all das nur schwer zu verstehen, wie sollte es da erst den vielen Gläubigen in aller Welt gehen? Er griff zum Rotweinglas und nahm einen kräftigen Schluck, den er ein wenig hastig hinunterkippte. Der leicht süßliche Geschmack des Weins und die Wärme, die der Alkohol in ihm verbreitete, beruhigten seine angespannten Nerven etwas. Er stellte das Glas ab, lehnte sich auf dem abgewetzten Stuhl zurück und schloss die Augen, um seine Gedanken zu ordnen.
Hinter dem Gardemord hatte eine Geheimgesellschaft gesteckt – oder zwei, was verwirrender, aber genauer war. Da hatte es den so genannten Zirkel der Zwölf gegeben, dem jeweils zwölf Schweizergardisten angehörten. Sie wachten über ein Geheimnis, das man die Wahre Ähnlichkeit Christi nannte.
Das war ein Smaragd, auf dem das wahre Abbild Jesu Christi zu sehen war. Eines doppelten Messias! Denn mit dem Smaragd verbunden war das Geheimnis, dass Jesus gar nicht am Kreuz gestorben, sondern nur in einen Scheintod verfallen war. Seine Freunde hatten ihn heimlich zur Küste gebracht, von wo er per Schiff übers Meer reiste, nach Gallien. Der angeblich auferstandene Erlöser war in Wahrheit der Zwillingsbruder des Herrn, Judah Toma, der die Legende von der Auferstehung benutzte, um eine neue Religion zu begründen. Als hätte all dies noch nicht gereicht, um die katholische Kirche in ihren Grundfesten zu erschüttern, hatte sich Papst Custos auch noch als Nachfahre des geretteten Jesus entpuppt. Die wunderbaren Heilkräfte, über die der Heilige Vater verfügte, verliehen dieser Behauptung einiges Gewicht. Verflochten mit dem Zirkel der Zwölf war die mächtige katholische Organisation Totus Tuus gewesen. Dieser erzkonservative Orden tat alles, um die althergebrachte Lehre und damit seinen eigenen Einfluss zu erhalten. Seine Mitglieder gingen sogar so weit, den Gardekommandanten umzubringen, der nicht länger das Geheimnis hüten, sondern mit dem neuen Papst zusammenarbeiten und die Kirche in ein neues, aufgeklärteres Zeitalter führen wollte. Der Heilige Vater selbst sollte von Totus Tuus ermordet werden, aber das Attentat war gescheitert und die Verschwörung aufgeflogen. Als Anführer der Geheimgesellschaft hatte sich niemand anderer als der Bruder des ermordeten Gardekommandanten entpuppt, der totgeglaubte Exgardekommandant Markus Rosin. Mehr als einmal hatte Dottesio sich gefragt, welche Überwindung es Alexander Rosin gekostet haben mochte, sich gegen seinen eigenen Vater zu stellen.
Ein Geräusch, das sich wie eine zuschlagende Tür anhörte, ließ Dottesio zusammenfahren. Er öffnete die Augen und sah sich um, aber er war allein. Natürlich war er das. Lucilla, seine Haushälterin, hatte heute ihren freien Abend. Sie war zusammen mit ihrem Mann Alberto, dem Kirchendiener, zu ihrem Vater nach Viterbo gefahren.
Im
Weitere Kostenlose Bücher