Engelsfluch
Fernsehen wandte sich Norina an Alexander Rosin:
»Signor Rosin, Sie haben einen guten Einblick in das Innenleben des Vatikans. Bis vor kurzem noch haben Sie der Schweizergarde angehört. Nach den Ereignissen, die mit der Ermordung Ihres Onkels und Ihrer Tante zusammenhängen, sind Sie vorzeitig aus dem Dienst ausgeschieden. Jetzt arbeiten Sie als Vatikanjournalist zusammen mit Signorina Vida beim
›Messaggero di Roma‹ und …«
Rosin fiel ihr ins Wort: »Sagen wir besser, ich unterstütze Elena bei ihrer Arbeit ein wenig. Sie ist die erfahrene Journalistin. Ich fange gerade erst an, in diesen Beruf hineinzuschnuppern.«
Dottesio fand Gefallen an dem Ernst und der Aufrichtigkeit, mit der Rosin die Moderatorin korrigierte, und er betrachtete den jungen Mann genauer. Das Gesicht, über dem sich rotbraunes, lockiges Haar ringelte, besaß feste Züge und wurde von einem markanten Kinn beherrscht. Geradlinigkeit und ein fester Wille sprachen aus diesem Gesicht. Und während der Ereignisse im Mai hatte Rosin bewiesen, dass er über diese Charaktereigenschaften verfügte.
Norina erholte sich von ihrer Irritation über die Unterbrechung und sprach Rosin direkt darauf an, ob er einen Zusammenhang zwischen der Kirchenspaltung und den Vorfällen sehe, die mit der Ermordung seines Onkels und dem fehlgeschlagenen Attentat auf den Papst in Verbindung standen.
Rosin nahm sich die Zeit, kurz zu überlegen, bevor er antwortete: »Bevor wir nichts Genaueres über die Motive derjenigen wissen, die sich zur so genannten Heiligen Kirche des Wahren Glaubens zusammengefunden haben, lässt sich darüber kaum etwas Konkretes sagen.«
»Aber der Name Heilige Kirche des Wahren Glaubens legt doch nahe, dass die Gründer dieser Kirche mit dem neuen, aufklärerischen Kurs von Papst Custos nicht einverstanden sind«, insistierte die Moderatorin.
»Das sehe ich auch so. Die Häupter der neuen Kirche werden aus ihrer Sicht schon gute Gründe haben, sonst hätten sie solch ein Projekt nicht unternommen.«
Zwar lächelte Norina noch immer, aber ihren zuckenden Mundwinkeln sah Dottesio den Unwillen darüber an, dass ihr Gast sich zu keinen Spekulationen verleiten ließ. »Sie glauben also nicht an einen direkten Zusammenhang zwischen der neuen Kirche und Totus Tuus, Signor Rosin?«
»Ich kann einen solchen Zusammenhang nicht ausschließen, aber ihn zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht bejahen.«
Norina beugte sich zu Rosin vor und sah aus wie ein rotmähniger Löwe, der zum Sprung auf sein Opfer ansetzt. »Es könnte doch sein, dass Ihr Vater Ihnen etwas über so einen Zusammenhang verraten hat. Stimmt es nicht, dass Sie Ihren Vater erst vor zwei Tagen besucht haben?«
Dottesio erinnerte sich, dass Markus Rosin bei einer bewaffneten nächtlichen Auseinandersetzung in den unterirdischen Gängen des Vatikans, über die nur wenig an die Öffentlichkeit gedrungen war, sein Augenlicht verloren hatte.
Der Vatikan, der als eigenständiger Staat auch über eine eigene Justiz verfügte, hatte Markus Rosin zu lebenslanger Haft verurteilt. Jetzt saß das ehemalige Oberhaupt von Totus Tuus wie einige andere Anführer der Verschwörung im neuen vatikanischen Gefängnis ein.
»Ja, ich war bei meinem Vater«, beantwortete Rosin die Frage.
»Und hat er Ihnen gegenüber eine Andeutung gemacht, was es mit der neuen Kirche auf sich haben könnte?«
»Nein. Wenn er etwas davon weiß, hat er es mir gegenüber nicht erwähnt.«
»Worüber hat er dann mit Ihnen gesprochen?«
Rosin blickte die Moderatorin ernst an. »Wir haben nur über Privates gesprochen, und darüber möchte ich in der Öffentlichkeit nicht reden.«
Leicht pikiert wandte sich Norina an Elena Vida und bat sie um eine Einschätzung. Während die Vatikanistin zu einer Antwort ansetzte, wurde Dottesio durch neuerlichen Lärm aufgeschreckt. Kam das aus der Sakristei? Einen Moment zögerte er und blickte zum Telefon, überlegte, ob er die Polizei anrufen solle. In den vergangenen sechs Wochen war zweimal in die Sakristei eingebrochen worden, wobei allerdings lediglich ein paar vernachlässigenswerte Sachschäden entstanden waren.
Bei den Tätern hatte es sich offenbar um Jugendliche gehandelt, vielleicht Drogensüchtige, die gehofft hatten, Dottesio würde die Klingelbeutel samt Spenden offen herumliegen lassen. Dottesio hatte daraufhin kurz überlegt, die Kirche, durch die die Einbrecher vermutlich gekommen waren, nur noch zu bestimmten Zeiten zu öffnen, wenn der Kirchendiener anwesend
Weitere Kostenlose Bücher