Engelskraut
Fensterglas. Die Trennungslinie zwischen drinnen und draußen konnte sie körperlich fühlen. Dennoch, diese Lebensvermeidung, die sie in letzter Zeit wieder bewusst betrieb, verlieh ihr eine gewisse Art von Sicherheit. Besonders seit jenem Tag, den sie als ihren Schicksalstag bezeichnete.
Dann, wenn sie keine Lust hatte, vor die Tür zu gehen und sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen, war diese virtuelle Welt hier ein idealer Tummelplatz. Man konnte sich mit Menschen unterhalten, die man eigentlich gar nicht kannte. Und man konnte sie einfach wegklicken, wenn einem ihr Geschwätz auf die Nerven ging.
Welche Belanglosigkeiten da ausgetauscht wurden, war manchmal zum Schreien. Dass das alles keine echte Kommunikation und nur eine Illusion war, war ihr durchaus bewusst. Aber das war immer noch besser als das blanke Nichts, das herrschte, wenn der Rechner ausgeschaltet blieb.
Eine Weile saß sie da, loggte sich in verschiedene Foren ein, chattete ein wenig oder klickte von Link zu Link. Nur um immer wieder festzustellen, dass der Mensch, auf den sie wartete, nicht online war.
Als sie Hunger verspürte, war es bereits drei Uhr am Nachmittag.
Das Wetter war launisch, veränderte sich von Stunde zu Stunde. Mittlerweile hatte sich der Himmel verdunkelt. Vor die Sonne schob sich eine Regenwolke, die sich wenig später entlud. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, hinterließ Schlieren im Staub. Aprilwetter.
Sie stand auf, lief in die Küche und machte sich etwas zu essen. Nudeln, eine Kräutersoße vom Vortag, nichts, was allzu viel Zeit in Anspruch nahm. Den Teller trug sie ins Wohnzimmer, stellte ihn neben dem Computer ab und aß, während sie gleichzeitig die Tastatur bediente.
Sie rief ein weiteres Portal auf. Ihr neues Jagdrevier. Hier nannte sie sich Artemisia.
Filou schrieb: ›Hi, Artemisia, ich sehe gerade, dass du online bist. Ich warte noch immer auf eine Antwort von dir. Ich würde sehr gern mit dir ausgehen und dich verwöhnen. Dein süßes Lächeln hat es mir angetan.‹
Beim Blick auf sein Foto verzog sie verächtlich das Gesicht. Das Bild zeigte einen Mann in Badehose, mit schütterem Haar, zerfurchtem Gesicht und einem unübersehbaren Bauch.
»Depp«, murmelte sie. Manche Männer waren wirklich dreist. Gut, dass man diese Typen mit einem Klick ins Jenseits befördern konnte.
Sie rief Profil um Profil auf, um es kurz zu überfliegen. Las die Vorlieben, Ausschlusskriterien, Träume und Sehnsüchte der Männer und bildete sich jeweils schnell ein Urteil. Sortierte aus. Oder sammelte. Die Guten ins Töpfchen. Davon gab es nur wenige. Diese wenigen erhielten einen Wink oder eine Blume. Doch heute war kein Einziger dabei, der auch nur einen kleinen Gunstbeweis von ihr verdient hätte. Unermüdlich zappte sie sich weiter wie getrieben durch die verschiedensten Portale. Außerdem schaute sie sich ein paar Videos auf YouTube an.
Gegen Abend veränderte sich das Wetter aufs Neue. Es hatte aufgehört zu regnen, die Blätter der Bäume waren schwer von den Tropfen, die ab und zu ein Glimmer der untergehenden Sonne traf. Dann wurde der Himmel wieder milchig trüb.
Sie saß noch immer vorm Bildschirm. Die Zeit war quälend langsam verronnen. Ihre Augen brannten und sie fühlte sich wie ausgehöhlt. Sie hatte keine Freude an dem, was sie tat. Es war etwas, das man machte, weil es notwendig war, wie Essen oder Kotzen. Man musste es tun, obwohl man es eigentlich gar nicht wollte. Und dieser intensive Selbsthass, den sie bei alldem empfand, machte ihr sichtlich zu schaffen.
Wie in Trance rief sie schließlich eine Community auf, die sie bis jetzt gemieden hatte. Mit ein paar Mausklicks und der Eingabe ihres Passworts loggte sie sich ein. Hier war sie Angelheart.
Sie überflog ein paar Foreneinträge, bis sie an den Zeilen von Blackangel hängen blieb.
›Ich frage mich, wie lange ich noch hierbleiben soll. Mit hier meine ich nicht dieses Forum, sondern dieses Leben.‹
Angelheart meets Blackangel. Eine Schicksalsfügung? Sie schloss kurz die Augen und sah zwei Engel mit gebrochenen Flügeln, die durch die Nacht irrten.
›Ich spüre mich nicht mehr. Bin nicht mehr vorhanden, nicht mehr da. Wie ein Aquarell, dessen Farben jemand Fremdes auf nasses Papier getupft hat und die nun ineinander zerlaufen, komme ich mir vor. Die Konturen zwischen mir und der Welt sind aufgehoben. Die Worte der Menschen rings um mich herum kommen nicht mehr bei mir an, es sind zu viele Dimensionen, die durch mich
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