Engelslicht
mit dem Daumen ab. »Und du glaubst, das kann mich aufhalten?«
Sie schloss die Augen. »Ich liebe dich zu sehr, um Lebewohl zu sagen.«
»Es ist kein Lebewohl.« Er gab ihr einen letzten engelhaften Kuss und umarmte sie so fest, dass sie seinen regelmäßigen Herzschlag hören konnte, der sich über ihren legte. »Es heißt auf Wiedersehen.«
Zwanzig
Wildfremde Menschen
Siebzehn Jahre später
Luce klemmte sich die Schlüsselkarte ihres Wohnheimzimmers zwischen die Zähne und verrenkte den Hals, um die Karte durch das Schloss zu ziehen, dann wartete sie auf das kleine elektrische Klicken und stieß die Tür mit der Hüfte auf.
Sie hatte die Hände voll: In ihrem klappbaren gelben Wäschekorb türmte sich ein Berg Klamotten, von denen die meisten nach dem ersten Trocknergang fern von zu Hause eingelaufen waren. Sie kippte die Kleider auf das schmale untere Etagenbett und war erstaunt darüber, wie sie es geschafft hatte, in so kurzer Zeit so viele verschiedene Sachen zu tragen. Die ganze Woche der Erstsemesterorientierung im Emerald College war auf beunruhigende Weise an ihr vorbeigerauscht.
Nora, ihre neue Mitbewohnerin und der erste Mensch außerhalb von Luce’ Familie, der sie mit ihrer Zahnspange sah (aber es war cool, weil Nora auch eine hatte), saß auf der Fensterbank, lackierte sich die Nägel und telefonierte.
Sie lackierte sich ständig die Nägel und telefonierte. Sie hatte ein ganzes Bücherregal voll mit Nagellackfläschchen, und in der Woche, die sie sich kannten, hatte sie Luce bereits zwei Pediküren verpasst.
»Ich sage dir, Luce ist nicht so.« Nora winkte Luce aufgeregt zu, die am Bettgestell lehnte und lauschte. »Sie hat noch nie einen Jungen geküsst. Okay, einmal – Lu, wie hieß dieser mickrige Knirps aus dem Sommercamp noch mal, von dem du mir erzählt hast …«
»Jeremy?« Luce rümpfte die Nase.
»Jeremy, aber es war so was wie Wahrheit oder Pflicht oder so. Ein Spiel für Kinder. Also, yeah …«
»Nora«, sagte Luce. »Musst du das wirklich weitererzählen … mit wem sprichst du da eigentlich?«
»Nur mit Jordan und Hailey.« Sie sah Luce an. »Ich habe auf laut gestellt. Wink mal!«
Nora zeigte aus dem Fenster auf den düsteren Herbstabend. Ihr Wohnheim war ein schönes, u-förmiges, weißes Ziegelsteingebäude mit einem kleinen Innenhof, wo ständig irgendwer herumhing. Aber Nora zeigte nicht auf den Hof. Direkt gegenüber von Luces und Noras Fenster im zweiten Stock befand sich ein weiteres Fenster im zweiten Stock. Es war hochgeschoben, braune Beine baumelten heraus und zwei Mädchenarme erschienen und winkten.
»Hey, Luce!«, rief eine von ihnen.
Jordan, das mutige rotblonde Mädchen aus Atlanta, und Hailey, zierlich und immer kichernd, mit dickem schwarzem Haar, das ihr in dunklen Kaskaden um das Gesicht fiel. Sie schienen nett zu sein, aber warum sprachen sie über all die Jungen, die Luce nicht geküsst hatte?
Am College war es so seltsam.
Bevor Luce eine Woche zuvor mit ihren Eltern die neunzehnhundert Meilen zum Emerald College gefahren war, hätte sie jedes einzelne Mal aufzählen können, das sie außerhalb von Texas gewesen war – einmal zu einem Familienurlaub zum Pikes Peak in Colorado, zweimal zu den Regionalmeisterschaften im Schwimmen in Tennessee und Oklahoma (im zweiten Jahr hatte sie ihre persönliche Bestleistung im Freistil überboten und ein blaues Band für das Team mit nach Hause gebracht), und der jährliche Besuch bei ihren Großeltern in Baltimore in den Ferien.
Der Umzug nach Connecticut, um aufs College zu gehen, war für Luce eine riesige Sache. Die meisten ihrer Freunde von der Plano Senior High besuchten Colleges in Texas. Aber Luce hatte immer das Gefühl gehabt, dass draußen in der Welt etwas war, das auf sie wartete, dass sie von zu Hause fortgehen müsse, um es zu finden.
Ihre Eltern unterstützten sie – vor allem als sie dieses Teilstipendium für ihr Delfinschwimmen bekam. Sie hatte ihr ganzes Leben in eine übergroße rote Reisetasche gepackt und ein paar Kartons mit sentimentalen Lieblingsstücken gefüllt, von denen sie sich nicht trennen konnte: Der Briefbeschwerer in Form der Freiheitsstatue, den ihr Dad ihr aus New York mitgebracht hatte, ein Bild von ihrer Mom mit einem schrecklichen Haarschnitt, als sie so alt wie Luce gewesen war, der Plüschmops, der sie an den Familienhund erinnerte, Mozart, das ausgefranste Tuch aus ihrem zerbeulten Jeep, das nach Wassereis roch – all das gab ihr Trost. Das Gleiche galt
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