Engelslicht
für den Blick auf die Hinterköpfe ihrer Eltern, als ihr Vater für vier lange Tage die Ostküste mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit hinaufgefahren war und von Zeit zu Zeit haltmachte, um Gedenktafeln zu lesen und eine Brezelfabrik im nordwestlichen Delaware zu besichtigen.
Es hatte einen Moment gegeben, als Luce daran gedacht hatte, umzukehren. Sie waren bereits zwei Tagesfahrten von zu Hause entfernt, irgendwo in Georgia, und die »Abkürzung« ihres Dads von ihrem Motel zum Highway führte sie an der Küste entlang, wo die Straße kiesig wurde und die Luft nach Mähnengerste stank. Sie hatten kaum ein Drittel der Strecke zu der Schule hinter sich, und Luce vermisste schon das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie vermisste ihren Hund, die Küche, wo ihre Mom Hefebrötchen gebacken hatte, und die Art, wie sich die Rosen ihres Vaters im Spätsommer um ihr Fenster rankten und ihr Zimmer mit ihrem sanften Duft und dem Versprechen auf frisch geschnittene Sträuße füllten.
Und in dem Moment fuhren Luce und ihre Eltern an einer langen, gewundenen Auffahrt mit einem hohen, düsteren Tor vorbei, das aussah, als stünde es unter Strom. Auf einem Schild vor dem Tor stand in kühnen schwarzen Buchstaben
SWORD & CROSS BESSERUNGSANSTALT.
»Das lässt nichts Gutes ahnen«, bemerkte ihre Mutter vom Vordersitz und blickte von ihrer Wohnzeitschrift auf. »Ich bin froh, dass du nicht da zur Schule gehst, Luce!«
»Ja«, erwiderte sie, »ich auch.« Sie drehte sich um und schaute aus dem Rückfenster, bis das Tor in den Wäldern verschwand. Und ehe es ihr bewusst war, überquerten sie die Grenze nach South Carolina und kamen Connecticut und ihrem neuen Leben im Emerald-College mit jeder Umdrehung der neuen Reifen des Jeeps näher.
Dann war sie da, in ihrem Wohnheimzimmer, und ihre Eltern waren wieder daheim in Texas. Luce wollte nicht, dass ihre Mom sich Sorgen machte, aber in Wirklichkeit war sie krank vor Heimweh.
Nora war toll – das war es nicht. Sie waren Freundinnen seit dem Moment gewesen, in dem Luce den Raum betreten und gesehen hatte, wie ihre neue Mitbewohnerin ein Poster von Albert Finney und Audrey Hepburn aus Zwei auf gleichem Weg mit Reißzwecken an der Wand aufhängte. Das Band festigte sich, als die Mädchen versuchten, in der ersten Nacht um zwei Uhr morgens in der schäbigen Wohnheimküche Popcorn zu machen und stattdessen den Feueralarm auslösten, sodass alle im Schlafanzug nach draußen mussten. Während der ganzen Orientierungswoche hatte Nora sich große Mühe gegeben, Luce in jeden ihrer vielen Pläne einzubeziehen. Sie hatte vor dem Emerald-College eine vornehme Privatschule besucht und war schon an das Wohnheimleben gewöhnt. Es kam ihr gar nicht merkwürdig vor, dass Jungen gleich nebenan wohnten, dass der Online-Radiosender des Campus die einzige akzeptable Art war, Musik zu hören, dass man eine Karte durch einen Schlitz ziehen musste, bevor man hier irgendetwas tat, dass Aufsätze immer geschlagene vier Seiten lang sein mussten.
Nora hatte diese ganzen Freunde von der Dover Prep, und sie schien jeden Tag zwölf neue Freunde dazuzugewinnen – wie Jordan und Hailey, die immer noch die Beine aus dem Fenster baumeln ließen und winkten. Luce wollte mithalten, aber sie hatte ihr ganzes Leben in einem verschlafenen Winkel von Texas verbracht. Das Leben dort war langsamer, und ihr wurde jetzt klar, dass es ihr so gefiel. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich nach Dingen sehnte, von denen sie zu Hause immer gesagt hatte, sie hasse sie, wie Country-Musik und gebratene Hühnerspieße von der Tankstelle.
Aber sie war an die Schule hier gekommen, um sich selbst zu finden, damit ihr Leben endlich begann. Das sagte sie sich immer wieder.
»Jordan hat gerade gesagt, dass ihr Nachbar dich süß findet.« Nora zog an Luce’ gewelltem, hüftlangem, dunklem Haar. »Aber er ist ein Spieler, also habe ich klargemacht, dass du eine Lady bist, Süße. Willst du schon mal rübergehen und vorglühen, bevor wir dann zu dieser Party gehen, von der ich dir erzählt habe?«
»Klar.« Luce zog die Lasche der Cola auf, die sie an dem Automaten neben den Waschmaschinen gezogen hatte.
»Ich dachte, du wolltest mir eine Diät-Cola mitbringen?«
»Habe ich auch.« Luce griff in ihren Wäschekorb, um die Dose herauszuholen, die sie für Nora gekauft hatte. »Tut mir leid, ich muss sie unten gelassen haben. Ich gehe sie holen. Bin gleich wieder da.«
» Pas de prob«, erwiderte Nora und wandte ihr Französisch
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