Engelslied
nichts entdecken. »Du kannst sie spüren?«
Wie es aussieht, hat meine Fähigkeit noch einen anderen Aspekt.
Kurz darauf veränderte sich der Himmel, schien zu flimmern wie bei einer Hitzewelle in der Wüste. Dann landete, anmutig und geschickt, genau in der Mitte des Festplatzes eine Engelsfrau mit makellos taubengrauen Flügeln und schneeweißem Haar, die ein tiefschwarzes Kleid trug. Bei ihrem Anblick ging erregtes Raunen durch die versammelte Menge, und ängstliche Anspannung legte sich über den Platz, denn dies war Lijuan und wo Lijuan war, floss viel zu oft Blut.
Bleib bei mir, Elena.
Raphael bahnte sich einen Weg durch die Menge der zu Salzsäulen erstarrten Gäste. Allerdings steuerte er dabei nicht Lijuan an, sondern Caliane.
Elena, die bereits diskret die Klinge aus der Scheide an ihrem Oberschenkel gezückt hatte, achtete darauf, Lijuan nicht eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen.
Wird deine Mutter dieses plötzliche Auftauchen als feindseligen Akt auffassen?
Woraus Elena ihrer Schwiegermutter ganz gewiss keinen Vorwurf machen konnte.
Das wäre eine Möglichkeit. Sie kann sich aber auch für eiskalte Höflichkeit entscheiden.
Dann hoffen wir mal auf einen Sieg eurer guten alten Etikette.
Als sie vor Caliane standen, war ihr Gesicht zu einer Maske aus eiskaltem Zorn erstarrt. Sie nahm Raphaels Anwesenheit an ihrer Seite mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, ehe sie in die Mitte des Platzes trat, wo sich bis auf den einen eben erst eingetroffenen ungebetenen Gast sonst niemand mehr aufhielt.
»Du hältst dich nicht an die Regeln des Gastrechts.« Calianes Worte knisterten vor Kälte. Elena atmete kurz aus – richtig, der Atem gefror ihr in der Luft, der Temperatursturz, den sie spürte, war beileibe kein rein bildlicher.
Lijuan lächelte. Eine Brise, die alle anderen unberührt ließ, fegte ihr die Haare aus dem Gesicht. »Ganz im Gegenteil.« Sie hob die Hand. »Ich habe ein Geschenk für dich mitgebracht.«
Sofort landeten neben ihr zehn geflügelte Krieger und bauten sich zu einer militärischen Formation auf. Sie alle trugen Dunkelgrau, dazu auf der Brust Lijuans rotes Symbol.
Raphael schloss sich noch näher an Caliane an.
Elena.
Sie verstand ihn sofort und bezog Position links von Caliane, leicht nach hinten versetzt, während Raphael die rechte Flanke der Uralten sicherte. Als hätten sie nur darauf gewartet, landete in diesem Moment hinter ihnen eine Schwadron geflügelter Kämpfer in den mitternachtsblauen Uniformen von Calianes Streitkräften.
»Das Geschenk ist unangemessen und muss zurückgewiesen werden.« Diesmal überzog leichter Frost den Saum von Elenas Kleid sowie ihre Flügelspitzen. Dabei hatte die Antwort der Uralten eigentlich ganz ruhig und gelassen geklungen, nur war Calianes Stimme bei ihren Worten so schneidend scharf geworden, dass man damit getrost auch ein etwas zäheres Fleischstück hätte schneiden können.
»Jammerschade. Sie sind eine gut trainierte Einheit.« Ein Lächeln spannte die Haut in Lijuans Gesicht, die so dünn war, dass Elena den Schädel darunter allzu deutlich zu sehen vermochte. Dabei ließ Lijuan ihren Blick nicht eine Sekunde von Caliane.
Elena fragte sich unwillkürlich, ob wohl auch Raphaels Mutter die Schreie hörte, die sie selbst jedes Mal vernahm, sobald sie in den Perlmuttglanz dieser Augen blickte – als hielte Lijuan in ihrem Innern tausend Seelen gefangen.
»Ich bringe auch Entschädigung für den während meines letzten Besuchs in der Stadt entstandenen Schaden«, fuhr Lijuan fort.
Zwei der Männer trugen eine Kiste nach vorne. Als sie sie öffneten, kam ein ganzer Piratenschatz an Gold und Edelsteinen zum Vorschein. »Als Zeichen meines Wohlwollens.«
»So einfach kann der Schaden nicht behoben werden.« Caliane blieb frostig, »Der Bruch ist endgültig.«
Ringsumher wurde laut gestöhnt – die Gäste, die der Konfrontation zwischen den beiden Frauen lauschen konnten, weil sie am nächsten standen, rechneten jetzt zweifellos mit dem Ausbruch von Gewalttätigkeiten.
Elena packte ihre Klinge fester. Ihre Finger mochten zwar klamm sein, gehorchten ihr aber noch.
Raphael?
Meine Mutter hat Lijuan gerade mitgeteilt, dass zwischen ihnen beiden nichts anderes als Feindschaft existieren kann. Egal, wie lange sie leben.
Das kam ja nun wirklich nicht überraschend und erklärte Elenas Meinung nach nicht die Panik, die sich auf den Gesichtern der Umstehenden abzeichnete.
Es gehört sich nicht, das so unumwunden zu sagen?
Nein.
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