Engelslied
auch Elena und Raphael den Festplatz den letzten unermüdlich Feiernden, um den Heimweg anzutreten. »Hast du von Keir gehört?«, erkundigte sich Elena bei Raphael.
»Er ist gerade bei der Toten eingetroffen. Naasir und Isabel stehen Wache, während er Kahla untersucht.«
Langsam gingen sie durch die beileibe noch nicht schlafende Stadt, über deren Straßen sich eine romantische Stille gesenkt hatte. Überall sah man schlendernde Paare und Gruppen die sanft beleuchtete Schönheit der Stadt bewundern. Alle ließen einander größtenteils in Ruhe. Nachdenklich fuhr Elena über die Verzierungen an einer Hauswand, an der sie gerade entlangging. Sie musste an den Leichnam denken, der nicht weit von hier entfernt vor der Stadtmauer lag. Nur durch Zufall waren die Bewohner Amanats dieser schlimmen Krankheit entronnen. Sie stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.
»Ich habe meiner Mutter geraten, den Energieschild zumindest jetzt im Moment wieder in Betrieb zu nehmen«, fuhr Raphael fort.
Lijuan vermochte diesen Schild zu durchdringen, für gewöhnliche Engel war dies jedoch so gut wie unmöglich. Sollte Lijuan angreifen, sähe sie sich mutterseelenallein einer Auseinandersetzung mit Caliane und ihren Leuten gegenüber – dieses Risiko würde der Erzengel von China nie eingehen. »Wie macht deine Mutter das mit dem Schild eigentlich?«
»Alexander konnte Ähnliches erschaffen, vielleicht bekommt man diese Gabe im Alter. Alexander ist ebenfalls uralt, er schläft jetzt.« Raphael breitete seine Flügel über Elena aus, sein Zeichen dafür, dass er sie näher bei sich haben wollte.
Im Schutz seiner Flügel mochte sie Fragen stellen, die sie quälten und die sie bisher nicht hatte stellen mögen. »Erzähl mir von Tasha«, bat sie.
»Ihre Eltern waren Krieger, die früher im Dienst meiner Mutter standen. Jetzt sind sie wieder nach Amanat zurückgekehrt, Tashas Vater hat Caliane heute Abend vom Festplatz geleitet.«
Überrascht sah Elena auf. Selbst in den weichen Schatten des noch nicht ganz erwachten Morgens leuchteten Raphaels Augen herzzerreißend blau. »Sie hat sie nicht mit in den Schlaf genommen?«
»Nein. Es war ihre Aufgabe, über mich zu wachen, sollte meine Mutter verschwinden oder sterben.« Durch eins der offenen Fenster neben ihnen fiel Licht auf die Straße und ließ Raphaels Flügel glitzern. »Auch noch in ihrem Wahnsinn, als sie kaum mehr wusste, was sie tat, hat sie daran gedacht, mir Beschützer zu hinterlassen. Leute, denen ich vertrauen konnte. Avi und Jelena waren und sind für sie das, was meine Sieben für mich sind. Letztendlich habe ich mein Vertrauen eher dem Kolibri geschenkt, aber das sagt nichts über den tiefen Respekt aus, den ich für Avi und Jelena empfinde.«
Also war das mit ihm und Tasha weit mehr als eine simple Liebesaffäre gewesen, die Verbindung zwischen beiden reichte viel tiefer. »Du bist mit Tasha zusammen aufgewachsen.« Tausende von Zeitfragmenten verbanden ihn mit dieser Frau.
»Wie die Wilden sind wir durch Amanat getobt!« Raphael führte sie durch eine kleine Passage hindurch zu dem Teich mit den Glockenblumen, den Elena schon von ihrer Begegnung mit Caliane her kannte. »Sie blieb meine Freundin, auch als wir größer wurden, aber wir sind nach dem Ende unserer Kindheit unterschiedliche Wege gegangen.«
Vor Elena lag jetzt ein kleines Wunderland: Unter den Glockenblumen hatten tagsüber schimmernde Nachtpflanzen geschlummert, die jetzt erwacht waren, um Teich und Steinbank in eine silberne Oase zu verwandeln. Außer ihnen hatte kein Besucher der Stadt dieses Kleinod entdeckt, aber Elena bereitete der schöne Anblick trotzdem keine richtige Freude. »Und als Erwachsene seid ihr euch wiederbegegnet, ja? Ihr hattet eine Beziehung.«
»Das ist jetzt Hunderte von Jahren her.«
Elena drehte ganz langsam eine Runde um den Teich. Eigentlich drängte es sie, so zu tun, als spiele das alles keine Rolle, dabei spielte es durchaus eine Rolle, es beschäftigte sie, quälte sie. Das wollte, das durfte sie nicht verschweigen. »Mir war immer klar, dass ich irgendwann einmal auf eine deiner ehemaligen Geliebten treffen würde. Aber muss die erste denn gleich so umwerfend sein?«
Raphael dachte an all die Jahrhunderte, die er durchlebt hatte, in denen er sich immer weiter von der Welt entfernt hatte, bis von dem kleinen Jungen, der er einmal gewesen war, kaum noch etwas existiert hatte. Elena begriff nicht, würde nie begreifen, in welche Tiefen sie bei ihm
Weitere Kostenlose Bücher