Engelslied
der komplexen Duftmischung eines vornehmen Parfüms wenig bei ihr an – bis auf einen hellen, tief verborgenen Spritzer Säure.
Ich spüre Uram in ihr. Eindeutig.
Kannst du beurteilen, wie tief der Infekt geht?
Nein.
Ihr Gespür für Engelsgerüche war gerade erst am Keimen, sie fing bei Michaela wahrscheinlich nur deswegen überhaupt etwas auf, weil Uram ein blutgeborener Engel gewesen war. Das Gift, das Menschen in Vampire verwandelte und eigentlich in regelmäßigen Abständen durch ebenden Erschaffungsprozess aus dem Körper gefiltert werden musste, hatte ihn aufgebläht, ihn in den Wahnsinn getrieben, bis er zu einem Monster geworden war, heimtückischer, als je ein Vampir gewesen war oder überhaupt sein konnte, sein Durst nach Blut und Tod war irgendwann unstillbar geworden.
Nach der Begegnung mit Michaela trafen Raphael und Elena Elias und Hannah, gefolgt von Titus und endlich auch Favashi. Elias gehörte nicht zum Kreis ihrer Verdächtigen, aber Elena nahm trotzdem kurz Tuchfühlung auf – nichts. Auch auf die beiden anderen Erzengel sprachen ihre Sinne nicht an, was aber nicht unbedingt etwas zu heißen brauchte. Als Astaad, der Erzengel mit den dunklen Augen und dem sauber gestutzten Schnurrbart, Elenas Hand ergriff, um sie an seinen Mund zu führen, hätte sie sie ihm am liebsten entzogen, musste sie doch unwillkürlich daran denken, dass Astaad vor wenigen Monaten erst mit seinen Händen eine seiner Konkubinen brutal verprügelt hatte.
Elena hätte ihm diese Hände am liebsten abgeschlagen, als sie von diesem brutalen Akt erfuhr, aber Raphael hatte ihr versichert, dass Astaad zwar als harter und oft auch brutaler Herrscher bekannt war, seine Frauen jedoch anbetete und normalerweise in höchstem Maße verwöhnte. Niemand hatte ihn bisher auch nur die Stimme gegen eine von ihnen erheben hören, und man war allgemein der Ansicht, dass sein grausames und ungewöhnliches Verhalten entweder mit der Kaskade zu tun hatte oder aber mit den Störungen, die mit Calianes Erwachen einhergegangen waren. Obwohl es Elena beileibe nicht leichtfiel, versuchte sie doch, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, wenn es um diesen Erzengel ging.
So ließ sie den Handkuss brav über sich ergehen, ehe sie ihre Aufmerksamkeit der Vampirin an Astaads Seite zuwandte. Die dunklen, eindringlich blickenden Augen der Frau sowie die satte, braune Haut und die auffallenden Gesichtszüge deuteten auf eine Herkunft von einer der Pazifikinseln hin, die Astaads Domäne waren, und verliehen ihr eine edle Schönheit, die schon nicht mehr ganz von dieser Welt zu sein schien. Kein Zweifel, vor Elena stand eine sehr alte Vampirin, und ihre Schönheit war das Ergebnis jahrhundertelanger, subtiler Veränderungen.
Lächelnd stellte Elena sich vor. »Ich bin Elena.«
Die andere Frau riss die Augen auf. »Ich bin Mele.« Ein rascher Blick Richtung Astaad, der Elena aufmerken ließ. Aber es blieb bei diesem einen Blick, danach sah Mele ihren Erzengel nicht mehr an.
So plauderten die beiden Frauen eine gute halbe Stunde miteinander, wobei sie etliche Gemeinsamkeiten entdeckten. Mele arbeitete an einer Langzeitstudie über Vampirsoldaten, Elena war Jägerin – da gab es vieles, was die eine an der Arbeit der anderen interessierte. »Ich komme mir vor wie eine Idiotin!«, entfuhr es Elena irgendwann spontan.
Mele zog die Brauen hoch. »Habe ich etwas gesagt …«
»Nein.« Hastig schüttelte Elena den Kopf. »Über Konkubinen hatte ich immer ein bestimmtes Bild im Kopf, und das haben Sie mir gerade gründlich zerschlagen.« Sie hatte sich bei Raphael erkundigt, ob sie den Begriff verwenden dürfe oder ob das unhöflich sei. Er hatte versichert, es sei durchaus üblich, eine Konkubine auch mit diesem Titel anzureden. Nur hatte Mele so gar nichts mit den Konkubinen aus Elenas Phantasie gemein. Sie war eine Gelehrte, sie beherrschte Sprachen, von deren Existenz Elena vor diesem Gespräch nicht einmal etwas geahnt hatte.
»Ah!« Mele schenkte Elena ein offenes Lächeln, das sie viel hübscher aussehen ließ, als es Michaela je vergönnt sein würde. »Natürlich gibt es Konkubinen, die lediglich Dekorationsstücke sind – das hatten Sie doch bestimmt erwartet, oder? Aber mein Erzengel hat immer schon Intelligenz und Geist geschätzt. All seine Frauen sind so wie ich.«
»Und werden Sie nicht eifersüchtig aufeinander?« Elena hatte diese Frage flüsternd gestellt. Sie überhaupt zu stellen ging nur, weil sie sich in der Gegenwart der anderen
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