Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
Vom Netzwerk:
anders, aber das Bild, das er sah, war dasselbe.
    Caliane hatte in zwei Städten den Tod sämtlicher Erwachsener verursacht, war für das schmerzhafte, ewige Schweigen verantwortlich, das sich über diese Städte gesenkt hatte. Nur Kinder hatten überlebt, aber auch nicht lange, denn sie waren so winzig gewesen, so verletzt tief in ihren Herzen, dass sie sich alle nur zusammengerollt hatten, um vor Kummer zu sterben. Hunderte und Aberhunderte kleiner Leben. Kerzen, die ausgelöscht wurden, ohne je richtig gebrannt zu haben.
    Das alles hatte Raphael gewusst. Er hatte verstanden, dass man Caliane aufhalten musste. Aber sie war doch auch die Mutter gewesen, die ihm so schöne Wiegenlieder vorgesungen hatte, dass die ganze Zufluchtsstätte still geworden war, um ihrer Stimme lauschen zu können. Also hatte er sich diesen einen, letzten Augenblick gestohlen, um sie noch einmal zu betrachten und sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, ehe der Wahnsinn sie in die Tiefe gerissen hatte.
    Anmutig und stark flog sie über ihm, die Flügel von der Sonne ausgeleuchtet … aber jetzt schob sich eine Wolke vor die Sonne. Das war nicht richtig, es hatte an jenem Tag keine Wolken gegeben. Nur die gleißende Sonne, die sein vergossenes Blut hatte stocken lassen, bis es glitzerte wie Millionen Rubine. Die Sonne, die gedroht hatte, ihn von innen heraus auszudörren.
    Jetzt gab es Wolken, und diese Wolken wurden immer dunkler, bis sie die Sonne ausgeblendet hatten. Seine Mutter war nicht mehr da, Raphael sah oben am Himmel nichts weiter als eine dicke Decke aus nichtssagendem Grau. Unter seinen Füßen war das üppige Gras braun geworden, das winzige Insekt zum Kadaver. Nur der Wind strich ihm weiterhin über das Gesicht. Aber es war keine frische Brise.
    Der Wind schmeckte merkwürdig alt
.
    Nicht nach Tod und Verwesung, nur alt. Er vermittelte das Gefühl unermesslichen Alters, erzählte von verborgenen Orten voller Geheimnisse, voll flüsternder Stimmen. Raphael atmete diesen Geruch ein, während er über das Feld ging. Er musste weitergehen, denn jemand wartete auf ihn. Er hatte das vertrocknete Feld schon halb überquert – wie alt
hier alles anmutete – als er die Morgenröte anbrechen sah. Nein, nicht die Morgenröte: Elenas Flügel war kurz über ihm aufgeragt, während sie ihn zusammenlegte, und jetzt kam das Oberlicht über ihrem gemeinsamen Bett zum Vorschein. Die Welt draußen hüllte sich in das neblige, formlose Grau der Zeit kurz vor Anbruch des Tages.
    In der Dämmerung glühte der silberne Ring um Elenas Iris. Seine Gemahlin beugte sich dichter zu ihm heran. »Ich wollte dich nicht wecken.«
    »Es wurde Zeit.« Raphael wusste, er wäre nie am Ende des Feldes angekommen, denn um dahin zu gelangen, brauchte er irgendetwas, hätte es eigentlich dabeihaben müssen … »Warum beobachtest du mich?«
    »Manchmal wache ich auf und kann mir einen Moment lang nicht vorstellen, dass ich wirklich so glücklich bin, wie ich mich fühle. Dann muss ich dich ansehen, denn sonst glaube ich nicht, dass du wirklich mir gehörst. Aber du gehörst mir.« Ihr Lächeln drang mühelos durch das Grau der Morgendämmerung. »Du gehörst mir.«
    »Ich hatte wieder einen Traum.« Elena erzählte er alles, denn seine Jägerin gehörte ebenso ihm, wie er ihr gehörte.
    Mit schräg gelegtem Kopf hörte sie zu, wie er das verlassene Feld beschrieb, das Gewicht des Alters, das auf allem gelegen hatte, den Geruch nach sehr, sehr alten Dingen. »Ich habe es nicht als Bedrohung empfunden«, sagte er nachdenklich. »Aber ich hatte das Gefühl, als würde ich etwas Undefinierbares verlieren, wenn ich nicht eine bestimmte Sache täte. Nur wusste ich nicht, was ich zu tun hatte.«
    Auch Elena dachte nach. »Es könnte natürlich sein, dass dein Unterbewusstsein wild um sich schlägt, es ist in letzter Zeit ja wirklich genug passiert. Aber wenn ich an unseren gemeinsamen Traum denke, habe ich da so meine Zweifel.«
    Genauso ging es Raphael, aber die Auslegung von Träumen musste erst einmal vor der harten Realität zurückstehen. »Und du, Elena?«, fragte er. »Was hast du geträumt?«
    »Nichts. Absolut und überhaupt gar nichts!« Sie strahlte vor lauter Erleichterung, aber dieses Strahlen wich nur allzu schnell wachsender Besorgnis. »Hat Jason gestern Nacht noch einen weiteren Bericht geschickt?«
    »Bei den Truppen, die Lijuan sammelt, scheint der Anteil von Wiedergeborenen verdächtig klein. Besonders wenn man bedenkt, wie viele Bewohner

Weitere Kostenlose Bücher