Engelslied
Sie hatte sich vom Wind hoch zu Raphael tragen lassen wollen, aber der tosende Sturm spielte nicht mit, sondern drohte, sie gegen das nächste Gebäude zu schleudern und zu zerschmettern.
Erneut biss sie die Zähne zusammen, kämpfte gegen die Gewalt des Windes an. Vergeblich: Ihre Flügel wollten gerade den Dienst quittierten, als unter ihr schnell wie ein Blitz etwas Blaues auftauchte. Illium behauptete sich in der Luft mit einer Kraft, die deutlich machte, wie sehr seine Fähigkeiten gewachsen waren. Als Elena begriff, weswegen er hier war, ließ sie sich fallen. Illium drehte sich in letzter Sekunde so, dass er sie auffangen konnte, steuerte im Spiralflug das nächstgelegene Dach an und brachte eine sichere Landung zustande.
Sofort sah Elena wieder zum Himmel auf. Raphael befand sich nach wie vor im Zentrum des Blutsturms. Sie konnte sein Bewusstsein nicht erreichen, es schien unendlich weit weg zu sein. »Kommst du zu ihm durch?« Sie musste schreien, denn der Wind war noch stärker geworden.
Illium flatterten die Haare wild um den Kopf. Er hielt Elena fest im Arm, seine Augen glühten golden, als er bedauernd den Kopf schüttelte. »Irgendetwas blockiert mich. Blockiert uns alle.«
Nein!
Diesmal war es keine Panik, die Elena antrieb, diesmal war sie wütend und wild entschlossen. Niemand würde es je schaffen, sie von Raphael zu trennen, niemand! Er gehörte ihr. Sie konzentrierte sich mit aller Kraft, richtete ihre Gedanken durch den blutigen Regen, der auf ihr Gesicht prasselte und die ganze Welt purpurrot zu färben schien. Mit all ihren Sinnen hielt sie Ausschau nach ihrem Erzengel, nach seinem Bewusstsein, konzentrierte sich auf das, was sie beide als Einheit darstellten.
Eine große Mauer schien zwischen ihnen zu stehen, aber Elena war nicht gewillt, sich davon abhalten zu lassen. Sie schlug auf die Mauer ein, bis sich ihr Bewusstsein ebenso blutüberströmt anfühlte wie ihr Gesicht, bis in der Mauer ein Loch entstanden war, durch das sie die Hand strecken konnte.
Raphael!
Raphael vernahm Elenas Stimme in seinem Kopf, wo sie durch das Raunen der anderen Stimmen drang, durch dieses wortlose Flüstern, das er dennoch verstand. Dies sei ein Test, flüsterten die Stimmen. Auch die beiden anderen Male seien Tests gewesen. Aber wer wagte es, einen Erzengel auf die Probe zu stellen? Auf diese Frage wusste Raphael keine Antwort, dafür war ihm etwas anderes umso klarer: Keine Macht des Universums konnte ihn von seiner Jägerin trennen.
Er drängte sich durch die graue, flüsternde Wand, um nach ihrer Hand zu greifen.
Ich bin hier, Elena.
Die Verbindung zwischen ihnen war rein und unbehindert.
Fliege zu mir.
Der Wind …
Wird dich nicht aufhalten.
Ohne seine Erlaubnis hatte niemand das Recht, seine Gemahlin anzurühren.
Illium
,
sagte er zu dem seiner Sieben, der seine Liebste sicher festhielt,
lass sie frei.
Seine Kraft war wie eine Klinge, mit der er, wenn auch unter Mühen, den Wind zu teilen vermochte, bis er sehen konnte, wie Elena abhob. Wie prächtig ihre Flügel vor dem Hintergrund des Blutregens anzusehen waren, ein Augenschmaus aus Mitternacht und Morgenröte, durchwachsen mit Indigo und dem Blau der Abenddämmerung. Der Regen teilte sich für sie, wie es der Wind getan hatte und wie es gleich darauf auch die Vögel taten. Sie alle machten seiner Gemahlin Platz. Bald war sie neben ihm, legte die Hände auf seine Schultern, legte vertrauensvoll die Flügel zusammen, als er seinen Arm um ihre Taille schlang.
Helle, silbergraue Augen musterten ihn prüfend. »Du bist hier.«
»Ja.« Die wunderbare, kalte, gefährliche Kraft hatte gedroht, ihn zu schlucken, aber er hatte sich geweigert, sich von Elena trennen zu lassen, und diese Weigerung hatte ihn etwas gelehrt: Diese Kraft war heimtückisch, er würde sie nie kontrollieren können. Aber selbst der kleine Vorgeschmack auf das, was hätte sein können, war überwältigend gewesen. Wenn er es schaffen könnte, wenigstens einen kleinen Teil dieser Kraft zu halten, dann würde kein Unsterblicher es je wagen, ein begehrliches Auge auf sein Territorium zu werfen. Ein kleiner Teil würde schon reichen …
Elenas Finger gruben sich in seine Schulter. »Hey! Deine Augen werden wieder schwarz.«
»So viel Macht, Elena, solche Kraft.« Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar, als die kalten Finger der Kraft erneut nach seinen Adern tasteten. Flüsternd drängten die Stimmen, er solle annehmen, was ihm geboten wurde. Dazu kam der Geruch des Alters, der
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