Engelsnacht
war es zwischen ihm und ihr viel zu sehr eine technische Übung gewesen. Jetzt aber fühlte sich alles so richtig an, als wäre sie für Daniel bestimmt und er für sie. Er roch und schmeckte so gut. Er war so groß und stark und …
Daniel löste sich erneut aus ihrer Umarmung.
»Was ist?«, fragte sie weich und zärtlich.
Er seufzte und schaute erst auf das Meer und dann hoch in den Nachthimmel. Eine unendliche Traurigkeit lag auf seinem Gesicht.
»Du hast gesagt, dich brächte so schnell keiner von mir fort«, flüsterte er heiser. »Aber das werden sie tun. Vielleicht verspäten sie sich diesmal nur etwas.«
»Sie? Wer denn?«, fragte Luce und suchte mit den Augen den menschenleeren Strand ab. »Meinst du vielleicht Cam? Aber der ist doch nicht hinter uns hergefahren.«
»Nein.« Daniel wandte sich von ihr und begann durch den Sand davonzustapfen. Er zitterte am ganzen Körper. »Das kann nicht sein.«
»Daniel.«
»Es wird geschehen«, murmelte er.
»Du jagst mir Angst ein.« Luce lief ihm nach, versuchte ihn einzuholen. Denn obwohl sie sich dagegen sträubte, hatte
sie plötzlich das Gefühl, zu wissen, was er meinte. Nicht Cam. Eine andere, viel größere Bedrohung.
Ihr Kopf fühlte sich wie Watte an. Was er sagte, drang zwar in ihr Bewusstsein vor und hörte sich auf unheimliche Weise wahr an, aber die wirkliche Bedeutung erschloss sich ihr nicht. Als erinnerte sie sich undeutlich an einen Traum, aber nur an einzelne Splitter, nicht an das Ganze.
»Sag was! Bitte rede mit mir!«, flehte sie. »Erklär mir, was hier geschieht.«
Er drehte sich zu ihr, sein Gesicht so weiß wie die Blüte einer Pfingstrose, seine Arme flehend ausgestreckt. »Ich weiß nicht, wie ich es aufhalten soll«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Sechzehn
In der Schwebe
Luce stand unentschlossen an der Wegkreuzung. Nach Norden ging es zum Friedhof, wenn sie aber dem Pfad nach Süden folgte, gelangte sie zum See. Es war bereits früher Abend und auf dem Schulgelände war kaum noch jemand unterwegs. Die Sonne schickte ihre schrägen Strahlen durch die Laubkronen der Eichen hinter der Turnhalle und zauberte ein grün-schwarz gesprenkeltes Muster auf das Gras, wo es zum See ging. Es war fast so, als wollte das Licht sie dorthin locken. Sie hatte sich noch nicht entschieden, welchen Weg sie wählen sollte. Sie hielt zwei Briefe in den Händen.
Der erste Brief stammte von Cam, eine Entschuldigung, wie sie es erwartet hatte. Er flehte sie an, sich nach der Schule mit ihm zu treffen, damit sie sich aussprechen konnten. Der zweite Brief war von Daniel. Und er bestand nur aus vier Wörtern: »Triff mich am See.« Sie konnte es nicht erwarten, ihn wiederzusehen. Ihre Lippen kribbelten immer noch von seinem langen Kuss am Vortag. Sie spürte immer noch seine Finger, die durch ihre Haare fuhren, seine Hüften, die sich an ihre pressten, seinen Mund, der viele kleine Küsse auf ihren Hals drückte. Sie war immer noch ganz davon erfüllt.
Andere Ereignisse der Nacht waren ihr nur verschwommen in Erinnerung. So wusste sie nicht mehr, was eigentlich geschehen war, nachdem sie sich neben Daniel in den Sand
gesetzt hatte. Nur wenige Minuten zuvor hatten seine Lippen ihre Lippen berührt, hatten seine Hände ihren Körper gierig und entzückt gestreichelt, und jetzt schien Daniel sich davor zu fürchten, auch nur aus Versehen ihre Haut zu streifen.
Nichts konnte ihn aus seiner Benommenheit herausreißen. Er murmelte in einem fort denselben Satz - »Etwas muss geschehen sein. Etwas muss geschehen sein.« - und schaute sie mit schmerzerfüllten Augen an, als wüsste sie die Antwort auf eine Frage, die er nicht laut auszusprechen wagte. Doch sie hatte nicht den blassesten Schimmer, was er meinte. Ihr war, als spräche er eine Sprache, die sie nicht verstand. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, blickte mit ihm zusammen auf den ewigen, unergründlichen Ozean hinaus und musste schließlich eingeschlafen sein.
Als sie Stunden später erwachte, lag sie in seinen Armen und er trug sie gerade die Treppe im Wohnheim hoch und den Korridor entlang bis zu ihrem Zimmer. Verwirrt merkte sie, dass sie die ganze Rückfahrt über geschlafen hatte - und noch verwirrter war sie, als sie das seltsame Leuchten ringsum im Gebäude wahrnahm. Es war wieder da. Daniels Licht. Von dem sie nicht einmal wusste, ob er selbst es sah.
Alles um sie herum war in dieses weiche violette Licht getaucht. Das Weiß der mit Aufklebern übersäten Türen
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