Engelsnacht
der Wohnheimzimmer schimmerte kalt wie Neonlicht. Die normalerweise langweilig braunen Linoleumfliesen strahlten dunkelviolett. Das Fenster zum Friedhof fing ein frühes violett-orange leuchtendes Morgenlicht ein, obwohl der Himmel draußen bewölkt zu sein schien. Und alles aufgenommen von den Rotlichtern.
»Wir sind geliefert«, flüsterte sie ängstlich, aber zugleich vom Schlaf immer noch benommen.
»Wegen der Rotlichter mache ich mir keine Sorgen«, sagte Daniel ruhig. Er streifte mit einem kurzen Blick die Kameras. Zuerst fühlte sie sich dadurch beruhigt, aber dann fiel ihr der Tonfall auf, in dem er das gesagt hatte. Er machte sich, so schien es, keine Sorgen wegen der Rotlichter, sondern wegen etwas anderem.
Nachdem er sie aufs Bett gelegt hatte, küsste er sie sacht auf die Stirn und stieß dann einen tiefen Seufzer aus. »Dass du mir nicht verschwindest«, bat er sie.
»Warum das denn?«
»Ich meine es ernst.« Er schloss die Augen lange. »Schlaf jetzt - aber wir müssen uns unbedingt vor der ersten Unterrichtsstunde treffen. Ich muss mit dir reden. Versprichst du mir das?«
Luce griff nach seiner Hand, um ihn zu einem letzten Kuss zu sich heranzuziehen. Sie hielt sein Gesicht zwischen ihren Händen und verschmolz mit ihm. Jedes Mal, wenn sie die Augen öffnete, betrachtete er sie forschend und aufmerksam. Und wieder hätte sie in diesen Momenten sterben können.
Schließlich erhob er sich und ging zur Tür, und dann stand er im Türrahmen und schaute sie an, und der Ausdruck in seinen Augen ließ ihr Herz genauso schnell und heftig pochen wie zuvor seine küssenden Lippen. Als er in den Gang hinausschlüpfte und die Tür hinter sich schloss, versank Luce in tiefsten Schlaf.
Sie verschlief den ganzen Vormittagsunterricht und wachte am frühen Nachmittag wie neugeboren auf. Was sie als Entschuldigung vorbringen sollte, dass sie den halben Tag geschwänzt hatte, kümmerte sie nicht. Es tat ihr nur leid, dass sie ihre Verabredung mit Daniel versäumt hatte. Aber sie würde sobald als möglich mit ihm reden, und er würde das sicher verstehen.
Gegen drei Uhr fiel ihr ein, dass sie vielleicht etwas essen oder bei Miss Sophia im Religionsunterricht vorbeischauen sollte. Seufzend stand sie auf. Da entdeckte sie die zwei Umschläge, die unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden waren, und um ihren Vorsatz, das Zimmer zu verlassen, war es für längere Zeit geschehen.
Sie musste zuerst ein für allemal die Sache mit Cam regeln. Wenn sie vor dem Friedhof an den See ging, würde sie sich nie mehr von Daniel losreißen können. Wenn sie aber zuerst zum Friedhof ging, würde ihre Sehnsucht, Daniel wiederzusehen, ihr den Mut geben, Cam zu sagen, was sie ihm schon am Abend vorher hatte sagen wollen. Aber erst war sie zu nervös gewesen und danach war alles außer Kontrolle geraten und hatte ihr nur noch Angst gemacht.
Luce verdrängte ihre Furcht vor einem erneuten Treffen mit Cam und steuerte auf den Friedhof zu. Auch jetzt, am frühen Abend, hatte die Hitze noch kaum nachgelassen, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Es würde eine dieser schwülen Nächte werden, in denen der auffrischende Wind vom Ozean zu schwach war, um bis in die Sümpfe zu dringen. Die Blätter hingen reglos und still an den Bäumen, kein Lebewesen, weder Mensch noch Tier, war zu sehen. Luce hatte das Gefühl, die Einzige zu sein, die sich auf der ganzen Welt bewegte. Die anderen Schüler stürmten jetzt wahrscheinlich gerade aus den Klassenzimmern in die Cafeteria zum Abendessen. Penn - und vielleicht noch ein paar andere - hatte sich bestimmt schon gefragt, wo sie steckte.
Cam lehnte an dem alten schmiedeeisernen Eingangstor des Friedhofs. Er wirkte erschöpft und angestrengt, hatte den Kopf gesenkt und trat mit der Stahlkappe seines schwarzen Stiefels gegen einen Löwenzahn. Luce konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal so in sich gekehrt und verschlossen
erlebt zu haben - die meiste Zeit zeigte Cam ein lebhaftes Interesse an der Welt um ihn herum, zumindest hatte es den Anschein.
Aber diesmal blickte er erst auf, als sie direkt vor ihm stand. Und als er es tat, war sein Gesicht aschfahl. Seine schwarzen Haare klebten ihm am Kopf. Und er hätte sich besser auch rasieren sollen, dachte Luce. Seine Augen wanderten über ihr Gesicht, als würde es ihn Mühe kosten, sich an ihre Züge zu erinnern. Er sah völlig fertig aus, nicht von der Prügelei in der Bar, sondern wie jemand, der mehrere Tage lang nicht geschlafen hat.
»Du
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