Engelsnacht
Handgelenk«, sagte Arriane. »Ungefähr ein Drittel der Schüler.«
»Und das sind diejenigen -«
»Mit denen du besser nichts zu tun haben solltest. Glaub mir.«
»Was haben die denn angestellt?«, fragte Luce.
So sehr Luce ihre eigene Geschichte lieber geheim halten wollte, so wenig mochte sie es, von Arriane wie ein dummes,
kleines Mädchen behandelt zu werden. Was auch immer diese Jugendlichen getan hatten, es konnte kaum viel schlimmer sein als das, was ihr vorgeworfen wurde. Oder doch? Was wusste sie über diesen Ort und die Jugendlichen hier? So gut wie nichts. Sie bekam allmählich Angst, ein kaltes, graues Frösteln stieg in ihr empor.
»Ach, du weißt schon«, plauderte Arriane weiter, »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zu Terrorakten. Die Eltern zerstückelt und am Bratspieß geröstet.« Sie wandte den Kopf und grinste Luce an.
»Hör auf«, sagte Luce, »und sag so was nicht.«
»Ich meine es ernst. Diese Psychos haben noch viel strengere Vorschriften aufgebrummt bekommen als der Rest der Durchgeknallten hier. Wir nennen sie die Gefesselten.«
Luce musste über ihren dramatischen Tonfall lachen.
»Dein Haarschnitt ist fertig«, sagte sie und fuhr mit den Fingern durch Arrianes Haare, damit sie lockerer fielen. Tatsächlich sah das Ganze jetzt richtig cool aus.
»Super«, sagte Arriane und drehte sich ganz zu Luce um. Als sie sich selbst mit den Fingern durch die Haare fuhr, rutschten die Ärmel ihres Sweaters hinunter und Luce bemerkte an ihrem linken Handgelenk ein schwarzes Lederarmband, das mit Silbernägeln verziert war, und an ihrem rechten ein weiteres Armband, das mehr … mehr nach einem elektronischen Gerät aussah. Arriane bemerkte ihren Blick.
»Hab ich doch gesagt«, meinte sie. »Die totalen Psychos.« Sie grinste teuflisch. »Jetzt komm weiter. Ich zeig dir noch den Rest.«
Luce hatte keine andere Wahl. Sie kletterte hinter Arriane die Zuschauertribüne hinunter. Als einer der Truthahngeier zu einem gefährlich tiefen Sturzflug ansetzte, duckte sie sich instinktiv. Arriane, die den Geier nicht zu bemerken schien,
zeigte auf das Gebäude ganz rechts, die Kirche, deren weißer Verputz eine moosgrüne Färbung angenommen hatte.
»Dort drüben sehen Sie unsere modern ausgestattete Turnhalle«, sagte sie im näselnden Tonfall eines Reiseführers. »Für ein ungeübtes Auge mag das Gebäude wie eine Kirche aussehen, doch das war früher einmal. Wir können in der Sword & Cross eine architektonische Höllenfahrt beobachten, eine Abkehr von der Religion. Vor ein paar Jahren kreuzte hier ein Psychiater mit einer Vorliebe für Fitnessübungen auf und wetterte über die mit Tabletten vollgestopften Jugendlichen, die noch unsere Gesellschaft ruinieren werden. Er spendete einen Riesenhaufen Geld, und deshalb wurde dann die Kirche in eine Turnhalle verwandelt. Die Machthabenden hier glauben, dass wir unsere ›Frustrationen‹ jetzt auf eine ›natürlichere und produktivere Weise abreagieren können‹.«
Luce stöhnte. Sie hatte Sportunterricht immer gehasst.
»Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack«, bemerkte Arriane dazu. »Das Training ist der reine Horror.«
Als Arriane ihr dann auch noch den Rest des Schulgeländes zeigte, musste Luce sich anstrengen, um mit ihr Schritt halten zu können. In ihrer alten Highschool war alles immer gemäht, gestutzt und gepflegt gewesen, in gleichmäßigen Abständen mit Bäumen und Hecken geschmückt. Hier in der Sword & Cross sah alles aus, als hätte man es aus den Wolken geschüttelt und dann einfach inmitten eines Sumpfgebiets liegen gelassen. Trauerweiden ließen ihre Zweige bis zum Boden herabhängen, Schlingpflanzen kletterten die Mauern hoch und fast bei jedem Schritt, den sie machten, schmatzte der morastige Boden unter ihren Füßen.
Und nicht nur, wie es hier aussah. Jeder Atemzug blieb Luce in der Lunge stecken. So feucht war die Luft. Allein das
Einatmen und Ausatmen an diesem Ort gab Luce das Gefühl, als würde sie in Treibsand versinken.
»Offensichtlich konnten sich die Architekten nicht ganz einigen, wie sie die alten Gebäude der Militärakademie am besten umbauen sollten. Das Ergebnis liegt irgendwo zwischen Straflager und mittelalterlicher Folterkammer. Und natürlich auch kein Gärtner.« Arriane kickte mit ihren Springerstiefeln einen Stein weg. »Echt krass. Ach ja, und da ist der Friedhof.«
Arriane deutete nach links, an den äußersten Rand des Schulgeländes, hinter dem Wohnheim.
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