Engelsnacht
Dicker Nebel hing dort über dem Grundstück. Luce konnte eine hohe Mauer erkennen, die an drei Seiten von Eichen umgeben war. Der Friedhof selbst war dahinter versteckt. Luce hatte das Gefühl, als sei er bereits tief in die Erde eingesunken. Man konnte nichts von ihm sehen, aber man konnte ihn riechen, den Geruch nach Verwesung, und man konnte die Zikaden hören, die in den Bäumen zirpten. Einen Augenblick glaubte Luce, dort das dunkle Spiel der Schatten zu sehen - aber sie blinzelte ein Mal und da waren sie verschwunden.
»Das ist ein Friedhof?«
»Ja. Vor langer Zeit war hier eine Militärakademie, wie schon gesagt. Ich glaube, die gab’s schon während des Amerikanischen Bürgerkriegs. Und hier haben sie alle ihre Toten beerdigt. Ganz schön unheimlich, wenn sie aus ihren Gräbern steigen. Und mein Gott«, stöhnte sie in einem völlig übertriebenen Südstaatenakzent, »es stinkt zum Himmel.« Sie zwinkerte Luce zu. »Wir treiben uns da ziemlich oft rum.«
Luce starrte Arriane an, um zu sehen, ob sie es ernst meinte. Arriane zuckte mit den Schultern.
»Okay, nur ein Mal. Und das war nach einer echten Tablettenorgie.«
Aha, dachte Luce, das kannte sie.
Arriane lachte. »Ich glaub, da weiß jemand, wovon ich rede. Willkommen im Club! Aber eins kann ich dir sagen, meine Liebe. Die Partys, die ihr an eurer Privatschule geschmissen habt, sind nichts verglichen mit dem, was bei uns abgeht.«
»Und was ist der Unterschied?« Luce versuchte, sich nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, dass sie in Dover nie auf einer richtig großen Party gewesen war.
»Wirst du schon merken.« Arriane schwieg einen Moment und drehte sich dann zu Luce um. »Du kommst doch heute Abend noch rüber zu mir, oder? Dann können wir zusammen abhängen.« Sie griff nach Luces Hand. »Versprochen?«
»Aber du hast doch gesagt, ich soll mich von den wirklich harten Fällen fernhalten«, sagte Luce scherzend.
»Regel Nummer zwei: Hör nicht auf mich!« Arriane lachte und schüttelte ihre kurzen Haare. »Ich bin offiziell verrückt.«
Sie joggte wieder los. Luce konnte nur mühsam mithalten.
»Warte auf mich! Und wie lautet Regel Nummer eins?«
»Immer dranbleiben!«
Als sie um die Ecke des Betonblocks bogen, in dem die Klassenzimmer untergebracht waren, stoppte Arriane. »Hauptsache cool«, sagte sie.
»Cool«, wiederholte Luce.
Sie näherten sich dem Eingang von Augustine, vor dem ein paar Bäume standen, die von Schlingpflanzen völlig überwuchert waren. Sämtliche Schüler der Sword & Cross
hingen dort herum, keiner wirkte besonders glücklich da draußen, aber genauso wenig schien irgendjemand Lust zu haben, wieder reinzugehen.
In Dover hatte es keine Schuluniformen gegeben, deshalb war Luce nicht daran gewöhnt, dass alle mehr oder weniger gleich aussahen. Und trotzdem. Obwohl die Schüler offensichtlich ähnliche Klamotten bevorzugten - schwarze Jeans, schwarzes Rollkragenshirt, schwarzer Sweater über die Schultern oder um die Hüften geknotet -, gab es große Unterschiede in der Art und Weise, wie sie sie trugen.
Eine Gruppe von tätowierten Mädchen, die Arme vor der Brust verschränkt, stand im Kreis zusammen. Ihre dünnen silbernen Armreife reichten ihnen bis zu den Ellenbogen, und die schwarzen Tücher, die sie sich um die Köpfe gebunden hatten, erinnerten Luce an einen Film über Biker-Mädchen, den sie mal gesehen hatte. Sie hatte ihn sich damals ausgeliehen, weil sie gedacht hatte: Was kann cooler sein als eine reine Mädchenclique auf Motorrädern? Jetzt begegnete sie kurz dem Blick von einem der Mädchen, das sie aus ihren kajalumrandeten Augen so hasserfüllt anstarrte, dass Luce schnell in eine andere Richtung schaute.
Ein Junge und ein Mädchen, die Händchen hielten, hatten die Rückseite ihrer schwarzen Sweater mit Totenkopf-Aufnähern verziert. Alle paar Augenblicke küssten sie sich auf die Schläfen, die Ohrläppchen, die Augen. Als sie einander die Arme um die Schultern legten, sah Luce, dass alle beide eine blinkende elektronische Fessel am Handgelenk trugen. Sie wirkten beide wie ziemlich harte Typen, der Junge und das Mädchen. Aber es war nicht zu übersehen, dass sie heftig ineinander verliebt waren. Jedes Mal, wenn ihre Zungenpiercings aufblitzten, spürte Luce, wie es ihr einen Stich gab. Sie fühlte sich plötzlich sehr einsam.
Hinter dem Liebespärchen standen mehrere blonde Jungen an die Mauer gelehnt. Sie hatten ihre Sweater übergezogen, trotz des schwülen Wetters. Darunter trugen
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