Engelsrache: Thriller
war. Sie saß an ihrem Tisch und betrachtete ihre Fingernägel.
»Der ist noch in seinen Räumen. Und schlecht gelaunt ist er auch.«
Glass galt schon seit über dreißig Jahren als notorischer Trinker und Schürzenjäger. Er war zweimal geschieden, in erster Linie wohl wegen seiner Vorliebe für junge Frauen, doch das schien die Bürger im Ersten Gerichtsbezirk nicht weiter zu stören. Jedenfalls wählten sie ihn alle acht Jahre aufs Neue in sein Amt. Schon Glass’ Vater war Richter gewesen und der Großvater auch. Deshalb sah der Mann sein Richteramt als eine Art Geburtsrecht an.
In Anwaltskreisen war er als Ivan, der Schreckliche, bekannt. Denn er kannte keinerlei Mitleid mit den Angeklagten und behandelte Strafverteidiger fast genauso schlecht wie ihre Mandanten. Ich stand mit ihm schon auf Kriegsfuß, seit ich meine anwaltliche Tätigkeit aufgenommen hatte. Als ich zum ersten Mal in seinem Verhandlungsraum auftrat, verurteilte er einen alten Mann zu einer Gefängnisstrafe, weil der arme Kerl die fälligen Gerichtskosten nicht begleichen konnte. Ich wusste zwar, dass dieses Urteil gesetzeswidrig war – denn das Prinzip der Schuldhaft war zu diesem Zeitpunkt bereits längst außer Kraft gesetzt –, doch Glass tat einfach, was er wollte, auch wenn er damit gegen das Gesetz verstieß. Also stellte ich ein paar Nachforschungen an und fand heraus, dass Glass schon seit Jahren immer wieder solche Urteile verhängt hatte. Daraufhin ersuchte ich ihn in einem Brief, von diesem Verhalten künftig Abstand zu nehmen. In seinem Antwortbrief ließ er mich wissen, dass junge Anwälte sich gefälligst um ihren eigenen Mist kümmern sollten. Also verklagte ich den Landkreis, da er es zuließ, dass einer seiner Wahlbeamten in seiner amtlichen Funktion beständig gegen die Verfassung verstieß. Am Ende des Verfahrens musste der Landkreis den Leuten, die Glass gesetzeswidrig zu Gefängnisstrafen verurteilt hatte, ungefähr eine Million Dollar an Abfindungen auszahlen, und Glass stand ziemlich blöde da. Deswegen hasste er mich und bestellte mich zur Strafe in besonders widerlichen Fällen – à la Johnny Wayne Neal – regelmäßig zum Pflichtverteidiger.
Im Gerichtssaal herrschte eine angespannte düstere Atmosphäre. Die Medienmeute hatte bereits auf den Geschworenenbänken Platz genommen. James und Rita Miller, Johnny Waynes Schwiegereltern, saßen in der ersten Reihe. Ritas Gesicht war tränenüberströmt. James wich meinem Blick aus, als ich in seine Richtung sah.
Ich ging zum Verteidigertisch und wartete dort auf das Eintreffen des Richters, der eine halbe Stunde später schließlich in seiner schwarzen Robe durch die Tür hereinschwankte. Sein halb langes schneeweißes Haar war völlig aufgelöst. Er trug eine getönte Lesebrille, hinter der seine Augen kaum zu erkennen waren. Ein Gerichtsdiener geleitete ihn die Stufen hinauf und schob ihm dann den Stuhl zurecht. Dann rief der Gerichtsdiener den Fall auf, und die Wachtmeister führten Johnny Wayne durch eine Tür rechts von mir herein und geleiteten ihn zu dem Podium vor der Richterbank.
Ich stand neben dem Podium direkt neben meinem Mandanten, während der Richter Johnny Wayne einer ausführlichen Befragung unterzog, um sich zu vergewissern, dass der Angeklagte wusste, auf welchen Handel er sich einließ, und dass er weder unter Alkohol noch unter Drogeneinfluss stand. Die Staatsanwältin Lisa Mayes erhob sich und verlas die ganze Litanei der Beweismittel, die sie gegen Johnny Wayne zu verwenden gedachte, falls dieser es doch auf ein Verfahren ankommen lassen sollte. Hinter mir fing Rita Miller hemmungslos an zu schluchzen, als die Staatsanwältin noch einmal detailliert schilderte, wie Laura in Gegenwart ihres Kindes von den Mördern aufs Brutalste umgebracht worden war. Ich war zutiefst beschämt, dass ich ausgerechnet jenen Mann anwaltlich vertrat, der die arme Frau so tief ins Elend gestürzt hatte.
Als Lisa fertig war, richtete Richter Glass sich auf. »Johnny Wayne Neal«, sagte er mit seiner durch reichlich Tabak- und Alkoholkonsum rau gewordenen Stimme, »wie möchten Sie sich zu dieser Anklage des vorsätzlichen Mordes äußern?«
Der Augenblick der Wahrheit war gekommen – unausweichlich.
»Ich bekenne mich schuldig«, lautete die kaum hörbare Antwort. Ich atmete erleichtert auf.
»Nach diesem Schuldgeständnis befindet das Gericht Sie für schuldig und verurteilt Sie zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe. Gleichzeitig gehen Sie des Rechts
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