Engelsschmerz
wird mich der Rat nicht aufhalten. Ich bin auf dem Weg zu Michael und wenn ich vor seinem Büro campieren muss, um Antworten zu bekommen, mache ich das. Alles ist besser, als weiterhin ständig über meine Schulter zu sehen, ob irgendwo blaue oder schwarze Federn in Sicht sind.
Apropos Federn; meine Finger legen sich ungewollt um einen Anhänger, den ich seit drei Tagen um den Hals trage. Ein weißes Lederband, an dem eine blaue Daune mit einer schwarzen Perle befestigt ist. Sie lag morgens neben mir auf meinem Kopfkissen und ich musste nicht überlegen, von wem sie kam. Aiden hat bislang nichts dazu gesagt, dass ich sie trage und ich werde ihn nicht darauf ansprechen.
Genauso wenig werde ich Gabriel auf das Buch mit dem dunkelrotem Samtumschlag ansprechen, das heute Morgen bei mir auf dem Bett lag. Teil eins der Chronik über die Todesengel. Ich hatte keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gibt. Vorhin hatte ich nur Zeit, um kurz reinzublättern, aber heute Abend werde ich sie lesen, bis mir die Augen wehtun.
Henry, der Wächterengel vor der Tür des Gebäudes, in dem die Ältesten sitzen und auch Michael sein Büro hat, verdreht nur die Augen, als ich um die Ecke komme, bevor er mir die Tür aufhält. Das ist neu.
„Nanu? Kein, 'Du darfst nicht rein', heute?“, frage ich mit hörbarer Irritation, weil ich allgemein erst mit ihm streiten muss, damit er mich passieren lässt.
„Er erwartet dich bereits“, antwortet Henry belustigt und deutet auf meinen verdutzten Blick hin mit dem Kopf nach innen. „Du kannst gleich hochgehen.“
„Zu wem?“, will ich verständnislos wissen.
Henry gluckst. „Zu Michael. Er meinte, sein Büroflur wäre nun wirklich nicht zum Camping geeignet, daher empfängt er dich.“
Ich werde ungewollt rot. „Woher weiß er das denn?“
Henry zuckt lässig mit den Schultern. „Er weiß alles. Und jetzt geh' endlich, mir wird der Arm lahm.“
„Wächter“, murmle ich vor mich hin und höre ihn hinter mir lachen, als ich das Haus betrete. Die Tür fällt zu und ich stehe in der Vorhalle, in der ich schon jeden Stein kenne. Sie sieht aus wie die Eingangshalle eines kleinen Hotels, und im Gegensatz zu sonst, ist sie heute leer. Keine anderen Engel, die hin- und herlaufen, und damit Leben ins Haus bringen. Stattdessen herrscht eine unheimliche Stille.
Ich durchquere mit eiligen Schritten die Halle und nehme den Fahrstuhl. Michael residiert ganz oben und auch bei ihm im Vorzimmer ist weit und breit kein Engel in Sicht. Dafür steht die Tür zu einem Büro etwas offen. Ich vermute, das ist meine Einladung. Bis hierher bin ich bislang nämlich noch nicht vorgedrungen, in meinen Bemühungen, Antworten von ihm zu bekommen.
„Hallo?“, frage ich, mit der Hand am Türknauf.
„Komm rein, mein junger Freund“, schallt eine tiefe und ruhige Stimme zu mir.
Ich schiebe die Tür auf und bleibe überrascht auf der Schwelle stehen, als mein Blick auf ihn fällt. Michael ist perfekt. Genau so, wie ich mir Engel als Kind vorgestellt habe. Blonde Locken, tiefblaue Augen und eine Statur; ohne Worte. Ich kann nicht anders, als ihn sprachlos anzustarren, was Michael mit einem amüsierten Blick kommentiert, bevor er vom Fenster wegtritt, vor dem er bis eben gestanden hat.
„Du kommst spät. Ich hatte schon vor drei Tagen mit dir gerechnet“, sagt er und irritiert mich damit völlig.
„Wieso vor drei Tagen?“
Michael kommt zu mir und nimmt den Anhänger in seine Hand, um behutsam über die weiche, blaue Feder zu streichen. „Blau für Aiden, schwarz für Gabriel, weiß für dich. Ein Geschenk von hohem Wert, Elias.“
Ich habe das Gefühl, als hätte mir plötzlich jemand die Scheuklappen vor den Augen weggenommen. „Sie wissen Bescheid?“, frage ich fassungslos.
Michael nickt lächelnd, lässt den Anhänger los und setzt sich hinter seinen Schreibtisch aus dunklem Holz. „Ich weiß, was in meinem Reich vor sich geht. Und du bist viel geduldiger, als ich es erwartet hatte. Aiden und Gabriel umwerben dich schon länger, trotzdem kommst du erst heute zu mir.“
„Blödsinn“, rutscht mir empört heraus. „Ich versuche seit Wochen mit Ihnen zu reden.“
„Das ist korrekt, doch erst seit heute Morgen bist du fest entschlossen. Du hast eine Entscheidung getroffen.“
Nicht das Thema wieder. Ich stöhne auf und tippe auf den Anhänger. „Sie müssen es den beiden verbieten!“
„Warum sollte ich?“, fragt er belustigt und lacht leise, als ich wütend schnaube. „Elias,
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