EngelsZorn - Im Blutrausch
Augen gewöhnten sich rasch an das dämmerige Licht im Raum. Die Luft roch verbraucht und abgestanden. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und betrachtete einige Sekunden lang Sébastian, der neben ihr lag und noch schlief. Eine dicke Strähne ihres langen aschblonden, welligen Haares hatte sich nachts in seinen langen Wimpern verfangen und bedeckte nun sein linkes Augenlid. Sie erinnerte sich mit einem Mal daran, was sie ihm beim dritten Date gesagt hatte. „Sie wollen es wirklich wissen? Na gut, Ihre Augen, vor allem aber die Wimpern... und Ihre Hände. Und jetzt Sie!“ Daraufhin hatte er sich zu ihr heruntergebeugt und zärtlich ihren Hals geküsst. „Alles!“, hatte er ihr anschließend ins Ohr gehaucht.
Und da war es schon wieder, das schrecklich laute Getöse. Doch nun erkannte sie sofort, dass jemand draußen an ihrer Haustür Sturm läutete und der erste Gedanke, der ihr in den Sinn kam, war Jean-Michel. Seit er diese Stelle bei der Post angenommen hatte, war Isabelle schon des Öfteren von ihm durch sein Sturmklingeln aus dem Bett geworfen worden, und das nur, weil er an jenen Tagen ein Päckchen für sie in der Tasche gehabt hatte. „Was erwartest du von mir? Ich bin Postbote, du Zicke!“ , hatte er ihr eines Morgens einmal gesagt, als sie ihn verschlafen an der Tür angefaucht hatte, wieso er ihr das Päckchen nicht einfach am Abend vorbeibringe. Sie hatte ihm sogar schon mehrfach angeboten, die Päckchen auch bei Chantal abzuholen.
Sie sprang aus dem Bett, trat dabei unglücklich auf, verbog sich ihren großen Zeh und fluchte: „Autsch, verdammt... wehe, du bist’s schon wieder... ich hab’s dir schon so oft gesagt...“ Sie lief ins Bad, warf dort schnell einen weißen Bademantel über ihren nackten, noch warmen Körper, eilte zum Eingang, spähte durch den Spion und öffnete die Eingangstür ihrer Wohnung. „Jean-Michel Dumont! Du hast mich schon wieder aus dem Bett geschmissen! Wie oft soll ich’s dir denn noch sagen?! Wenn ich nicht gleich aufmach‘, dann schlaf‘ ich noch!“ ermahnte sie ihn.
Jean-Michel sah sie an, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Er wirkte mit seiner bunten, gestrickten Bommelmütze wie ein Clown. Ein paar vereinzelte blonde Haarsträhnen lugten aus der Mütze hervor, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, und seine große Nase war durch die Kälte gerötet. „Echt? Du warst noch im Bett?“, entgegnete er zynisch. „Auf die Idee wär‘ ich nie gekommen!“
„Mensch, hör‘ auf!... wie lange stehst du eigentlich schon hier und drückst deinen Daumen auf meiner Klingel platt?“
Er sah auf seine Uhr. „Fast vier Minuten... länger als sonst, Isabelle! Du hast dir heute verdammt viel Zeit gelassen. Lange gefeiert gestern Abend, oder?“, Jean-Michel konnte sich plötzlich das Grinsen nicht verkneifen und fixierte sie mit neckischen Blicken. „Ist Sébastian eigentlich bei dir?“
„Dumme Frage!“, erwiderte Isabelle gereizt und erhob leicht ihre Stimme. „Du bist hoffentlich nicht nur gekommen, um mich das zu fragen!“
„Sind wir heute etwa gereizt?“ Er grinste immer noch.
„Was heißt hie r gereizt ? Ich wollte nicht vor zwölf aufstehen... und jetzt steh‘ ich hier an der Tür, bin todmüde und kalt ist mir auch noch. Ist das nicht Grund genug für meine schlechte Laune?... außerdem tut mir auch noch mein großer Zeh weh. Dank dir übrigens!“ Isabelle hob ihren Fuß an und streckte ihm ihren wunden Zeh entgegen.
„Oh, das tut uns aber leid! Gleich drück‘ ich mir eine Träne aus dem Auge.“, er zog eine Schnute und sah Isabelle mitleidig an.
Isabelle streckte ihm die Zunge raus.
„Das kann ich noch viel besser!“, rief Jean-Michel aus und zeigte ihr nun seinerseits die Zunge.
Isabelle deutete ihm einen Schlag mit ihrer flachen Hand auf seinen Mund an und Jean-Michel wich ihr aus, indem er einen Schritt zurücktrat. „Was willst du überhaupt hier? So früh!“, quengelte sie ihn an.
„Ich tu‘ nur meinen Job! So gut wie dir, kann’s ja nicht jedem gehen! Liegt um halb...“
„Ist das Päckchen da eigentlich für mich?“, unterbrach ihn Isabelle hastig. Sie strahlte plötzlich übers ganze Gesicht. Dass ihr kalt war und ihr großer Zeh schmerzte, hatte sie schon längst wieder vergessen. Isabelle freute sich über nichts mehr als über Geschenke, die ihr Sébastian ständig machte, oder aber kleine Päckchen, mit denen Jean-Michel am Morgen schon ihren Tag versüßen konnte, auch wenn es für sie mühselig und
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