Enigma
Er grunzte und griff nach einem Bleistift.
»Sendezeit 19.02 Uhr, 52,1 Grad Nord, 37,2 Grad West. Danke, Bill. Machen Sie so weiter.« Er legte den Hörer auf.
»Jetzt sind es sieben…«
Es war wieder dunkel, und im Ballsaal war das Licht eingeschaltet. Die Wachtposten draußen brachten lautstark die Verdunkelungsläden an, wie Gefängniswärter, die ihre Schäfchen für die Nacht einschließen.
Jericho hatte seit zwanzig Stunden keinen Fuß vor die Baracke gesetzt, hatte nicht einmal aus dem Fenster geschaut. Als er zu seinem Platz zurückkehrte und seinen Mantel überprüfte, um sicherzugehen, daß die Kryptogramme noch da waren, ging ihm kurz durch den Kopf, was für eine Art Tag es gewesen sein mochte und was Hester wohl tat.
Denk jetzt nicht darüber nach.
Er spürte bereits, wie das Benzedrin zu wirken begann. Seine Herzmuskeln fühlten sich federleicht an, sein Körper elektrisch geladen. Als er einen Blick auf seine Notizen warf, war das, was vor einer halben Stunde starr und undurchdringlich erschienen war, plötzlich in Bewegung geraten und steckte voller Möglichkeiten.
Das neue Kryptogramm lag bereits auf seinem Tisch.
YALB DKYF »Planquadrat BD 2742«, rief Cave. »Kurs 055 Grad. Geschwindigkeit des Konvois neuneinhalb Knoten.«
Logie sagte: »Eine Nachricht von Mister Skynner. Eine Flasche Scotch für den ersten Mann mit einem Menü für die Bomben.«
Dreiundzwanzig Meldungen eingegangen. Sieben U-Boote in Kontakt. Noch zwei Stunden bis Einbruch der Nacht über dem Nordatlantik.
20 Uhr: neun U-Boote in Kontakt.
20.46 Uhr: zehn Die Frauen im Kontrollraum ließen sich für ihr Abendessen an einem Tisch in der Nähe der Essensausgabe nieder. Celia Davenport zeigte allen ein paar Fotos von ihrem Verlobten, der in der Wüste kämpfte, während Anthea Leigh-Delamere sich endlos über ein Treffen der Jagdreiter von Bicester ausließ. Hester reichte die Fotos weiter, ohne sie anzuschauen. Ihre Augen ruhten auf Donald Cordingley, der gerade nach seinem Brocken Quastenflosser anstand oder was immer sonst für ein obskures Exemplar von Gottes Meeresgeschöpfen man ihnen heute zu essen gab.
Sie war intelligenter als er, und er wußte es. Sie schüchterte ihn ein.
Hallo, Donald, dachte sie. Hallo, Donald… Oh, nichts Besonderes, nur diese halsbrecherische neue Abteilung, wo man nach der Parade des Oberbürgermeisters mit Eimer und Schaufel antreten muß… Also, hören Sie zu, Donald, da ist doch dieses komische kleine Funknetz, Konotop - Prihiki - Poltawa in der südlichen Ukraine - nichts Wichtiges - aber es ist uns nie ganz gelungen, es zu knacken, und Archie - Sie kennen Archie doch? - Archie hat eine Theorie, daß es eine Variante von Vulture sein könnte… Funkverkehr im Februar und den ersten Märztagen… Das stimmt…«
Sie beobachtete ihn, wie er sich allein an einem Tisch niederließ und in seinem Essen herumstocherte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Und als er eine Viertelstunde später aufstand und seine Essensreste in die Abfalltonne schabte, erhob sie sich gleichfalls und folgte ihm.
Sie war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß die anderen Frauen ihr verwundert nachschauten. Sie ignorierte sie.
Sie folgte ihm den ganzen Weg zurück zu Baracke 6, gab ihm fünf Minuten, wieder zur Ruhe zu kommen, dann ging sie ihm nach.
Der Maschinenraum war düster und verschlafen wie eine Bibliothek am Abend. Sie tippte ihm leicht auf die Schulter.
»Hallo, Donald.«
Er drehte sich um und blinzelte verblüfft zu ihr auf.
»Oh, hallo…« Die Gedächtnisanstrengung war heroisch.
»Hallo, Hester.«
»Da draußen ist es jetzt fast dunkel«, sagte Cave nach einem Blick auf die Uhr. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Wie viele haben Sie bekommen?«
»Neunundzwanzig«, sagte Baxter.
»Haben Sie nicht gesagt, das wäre genug, Mister Jericho?«
»Wetter«, sagte Jericho, ohne aufzusehen. »Wir brauchen einen Wetterbericht von dem Konvoi. Barometerstand, Wolkendichte, Wolkenart, Windgeschwindigkeit, Temperatur. Bevor es zu dunkel wird.«
»Die haben zehn U-Boote auf dem Hals, und Sie wollen, daß sie Ihnen einen Wetterbericht liefern?«
»Ja, bitte. So schnell wie möglich.«
Der Wetterbericht traf um 21.31 Uhr ein.
Nach 21.40 Uhr kamen keine Kontaktmeldungen mehr.
So war die Lage von Konvoi HX-229 um 22 Uhr: Siebenunddreißig Handelsschiffe in der Größenordnung von 12 000 Tonnen wie der britische Tanker Southern Princess bis hin zu dem 3 500 Tonnen großen amerikanischen Frachter
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