Enigma
voller Abscheu. »Das ist ja, als säße man mit einer Horde Aasgeier in einem Zimmer.«
Irgendwo hinter ihnen schaffte es ein Telefon, ein halbes Läuten von sich zu geben, bevor es abgehoben wurde. Einen Augenblick später kam Logie herein, noch schreibend.
»Das war St. Erith. Ein E-Auftakt von 49,4 Grad Nord und 38,1 Grad West.«
»Neue Position«, sagte Cave und starrte auf seine Karte. Er machte ein Kreuz, dann warf er seinen Bleistift hin, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich das Gesicht. »Alles, was der Konvoi geschafft hat, ist, daß er von einem Leichenwagen direkt auf den nächsten zugelaufen ist. Der wievielte ist das? Der fünfte? Die See muß von ihnen wimmeln.«
»Er entkommt ihnen nicht«, sagte Puck, »oder?«
»Keine Chance. Nicht, wenn sie aus allen Richtungen auf ihn zukommen.«
Eine Wren erschien und verteilte die neueste Meldung an die Kryptoanalytiker.
BKEL UUXS Zehn Meldungen. Fünf U-Boote in Kontakt.
»Planquadrat?« sagte Jericho.
Hester Wallace, die Tochter eines Geistlichen, spielte nicht Poker, was ein Fehler war, denn sie verfügte über ein Pokergesicht, das ihr ein Vermögen hätte einbringen können. Keiner, der sie dabei beobachtete, wie sie an diesem Nachmittag ihr Fahrrad in den Schuppen neben der Kantine schob, oder ihr zusah, wie sie dem Posten ihren Ausweis zeigte oder sich in Baracke 6 an die Wand drückte, damit sie vorbeigehen konnte, oder ihr in der Auffangkontrolle gegenübersaß - keiner wäre auf die Idee gekommen, daß ein solcher Aufruhr in ihrem Kopf herrschte.
Ihr Teint war wie immer blaß, ihre Stirn leicht gerunzelt, so daß man sie kaum anzusprechen wagte. Sie trug ihr langes, dunkles Haar wie ein Kopfweh, wütend aufgetürmt und von Haarnadeln durchbohrt. Ihre Kleidung war die übliche Uniform einer Lehrerin aus dem Westen: flache Schuhe, graue Wollstrümpfe, schlichter grauer Rock, weiße Bluse und eine ältere, aber gut geschnittene Tweedjacke, die sie in Kürze ausziehen und über die Stuhllehne hängen würde, denn der Nachmittag war warm. Ihre Finger fuhren mit kurzen, pickenden Bewegungen über das Formular. Sie hatte die ganze Nacht kaum geschlafen.
Name der Horchstelle, Auffangzeitpunkt, Frequenz, Rufzeichen, Buchstabengruppen…
Wo wurden die Aufzeichnungen aufbewahrt? Das war das erste, was sie herausbekommen mußte. Offensichtlich nicht in der Kontrolle. Nicht im Index. Nicht in der Registratur. Und auch nicht nebenan im Registrierraum; dort hatte sie bereits eine schnelle Inspektion vorgenommen. Der Dechiffrierraum war eine Möglichkeit, aber die Frauen an den Typ-X- Maschinen beklagten sich ohnehin über die fürchterliche Enge. Sechzig verschiedene Enigma-Schlüssel, deren Einstellung täglich geändert wurde - bei der Luftwaffe manchmal sogar zweimal am Tag -, nun, das waren allwöchentlich mindestens fünfhundert Informationen, 25 000 im Jahr, und dies war das vierte Kriegsjahr. Das ließ auf einen ziemlich umfangreichen Katalog schließen, sogar eine kleine Bibliothek.
Die einzig mögliche Schlußfolgerung: Sie wurden dort aufbewahrt, wo die Kryptoanalytiker arbeiteten, im Maschinenraum oder ganz in der Nähe davon.
Von zwölf bis drei war sie mit dem Eintragen von Chicksands beschäftigt, dann machte sie sich auf den Weg zur Tür.
Ihr erster Gang durch den Maschinenraum wurde durch Nervosität behindert: schnurstracks durch ihn hindurch bis ans andere Ende, ohne auch nur einen Blick zur einen oder anderen Seite zu werfen. Sie stand vor dem Dechiffrierraum und versuchte, ihre Aufregung in den Griff zu bekommen. Sie tat so, als studiere sie das Schwarze Brett, und machte sich mit zitternder Hand eine Notiz über eine Aufführung der Fledermaus durch die Bletchley Park Music Society, die zu besuchen sie keineswegs die Absicht hatte.
Der zweite Durchgang war besser.
Im Maschinenraum gab es keinerlei Maschinen - der Ursprung seines Namens war in den grandiosen Nebeln von 1940 verschwunden -, nur Arbeitstische, Kryptoanalytiker, mit Meldungen gefüllte Drahtkörbe und Aktenregale, eines neben dem anderen an der ganzen rechten Wand. Sie blieb stehen und sah sich verzweifelt um, als suchte sie nach einem vertrauten Gesicht. Das Problem war, daß sie niemanden kannte. Doch dann fiel ihr Blick auf einen kahlen Kopf mit ein paar langen aschblonden Haarsträhnen, die über einen sommersprossigen Schädel gekämmt waren, und ihr wurde klar, daß das etwas nicht hundertprozentig stimmte.
Sie kannte Cordingley.
Der gute alte,
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