Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
Pförtnerloge hing eine alte Karte des dicht besiedelten, von Cambridge, Oxford und London begrenzten Dreiecks von Südengland. Bletchley war ein Eisenbahnknotenpunkt genau in der Mitte zwischen den beiden Universitätsstädten, und Shenley Church End war ein winziges Nest ungefähr sechs Kilometer nordwestlich davon.
    Kite betrachtete den interessantesten der drei Umschläge. Er hob ihn an seine knollige, von blauen Äderchen durchzogene Nase. Er roch daran. Er hatte mehr als vierzig Jahre lang Post sortiert und erkannte die Handschrift einer Frau auf dem ersten Brief: klarer und säuberlicher, schwungvoller und weniger kantig als die eines Mannes. Auf dem Gaskocher hinter dem Ofen dampfte ein Wasserkessel. Er sah sich um. Es war noch keine acht Uhr und draußen noch nicht richtig hell. Binnen Sekunden war er in dem Alkoven im hinteren Teil des Raums und hielt den Umschlag mit der zugeklebten Seite über den Dampf. Er war aus dünnem, schäbigem Kriegspapier, mit billigem Klebstoff verschlossen. Die Klappe wurde rasch feucht, wellte und öffnete sich, und Kite zog eine Karte heraus.
    Er hatte sie gerade gelesen, als er hörte, wie die Tür zur Pförtnerloge geöffnet wurde. Ein Windstoß ließ die Fenster klappern. Er steckte die Karte hastig wieder in den Umschlag, tauchte den kleinen Finger in den Leimtopf, der neben dem Ofen stand, und drückte die Klappe an. Dann schaute er scheinbar gelassen um die Ecke, um zu sehen, wer hereingekommen war. Ihn hätte fast der Schlag getroffen.
    »Großer Gott - Morgen - Mr. Jericho - Sir…«
    »Ist irgendwelche Post für mich gekommen, Mister Kite?« Jerichos Stimme klang halbwegs kräftig, aber er schien leicht zu schwanken und hielt sich am Tresen fest wie ein Matrose, der nach einer langen Reise gerade erst an Land gekommen war. Er war ein blasser junger Mann, ziemlich klein, mit dunklem Haar und dunklen Augen, die die Blässe seiner Haut noch zu unterstreichen schienen.
    »Nicht daß ich wüßte, Sir. Ich sehe noch einmal nach…« Kite zog sich würdevoll in den Alkoven zurück und versuchte, den feuchten Umschlag mit dem Ärmel zu bügeln. Er war nur leicht gewellt. Er schob ihn zwischen einen Stapel von Briefen, kam wieder nach vorn und vollführte eine pantomimische Glanzleistung, wie er selbst befand, indem er so tat, als durchsuchte er ihn.
    »Nein, nichts, nein. Oh… doch, hier ist etwas. Tatsächlich. Und noch zwei.« Kite schob sie über den Tresen. »Ihr Geburtstag, Sir?«
    »Gestern.« Jericho steckte die Briefe in die Innentasche seines Mantels, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
    »Herzlichen Glückwunsch nachträglich, Sir.« Kite sah zu, wie die Briefe verschwanden, und seufzte innerlich vor Erleichterung. Er verschränkte die Arme und stützte sie auf den Tresen. »Darf ich mir eine Vermutung über Ihr Alter erlauben, Sir? Sie sind ´35 hergekommen, wenn ich mich recht erinnere. Bedeutet das, daß Sie sechsundzwanzig geworden sind?«
    »Ist das meine Zeitung, Mr. Kite? Vielleicht kann ich sie gleich mitnehmen. Erspart Ihnen die Mühe.«
    Kite grunzte, stemmte sich wieder hoch und langte nach der Zeitung. Als er sie ihm aushändigte, unternahm er einen letzten Versuch, sich mit ihm zu unterhalten, indem er sich über den befriedigenden Verlauf des Krieges in Rußland seit Stalingrad äußerte und daß Hitler bald am Ende wäre, wenn man ihn frage - aber er, Jericho, sei über diese Dinge bestimmt besser auf dem laufenden als er, Kite… ?
    Der jüngere Mann lächelte nur.
    »Ich bezweifle, ob mein Wissen über irgend etwas so auf dem laufenden ist wie das Ihre, Mr. Kite, nicht einmal über mich selbst. In Anbetracht Ihrer Methoden.«
    Einen Augenblick lang war Kite nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Er starrte Jericho an, der seinen Blick erwiderte und ihm mit seinen dunkelblauen Augen standhielt, in denen unvermittelt ein Funke Leben aufgeglommen war. Dann, immer noch lächelnd, nickte Jericho ein »Guten Morgen«, klemmte sich seine Zeitung unter den Arm und war verschwunden. Kite schaute ihm durch das Sprossenfenster der Pförtnerloge nach - eine schlanke Gestalt im rotweißen Collegeschal, unsicher auf den Beinen, den Kopf gegen den Wind gesenkt. »Meine Methoden«, wiederholte er leise. »Meine Methoden?«
    Als sich das Trio an diesem Nachmittag wie üblich zum Tee um den Ofen scharte, konnte er eine völlig neue Erklärung für Jerichos Anwesenheit in ihrer Mitte liefern. Natürlich durfte er nicht verraten, wie er an seine

Weitere Kostenlose Bücher