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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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dauernden Schaden davongetragen hatte.
    Nach dem Kreuzworträtsel und dem Schach überflog er an seinem Schreibtisch die Kriegsnachrichten und versuchte dabei etwas zu essen. Es war ihm unmöglich, die Nachrichten über die Schlacht im Atlantik zu übergehen, obwohl er es sich immer wieder vornahm (TOTE MÄNNER AN DEN RIEMEN; U-BOOT-OPFER IN RETTUNGSBOOTEN ERFROREN…). Er konzentrierte sich statt dessen auf die russische Front: Pawlograd, Demiansk, Rezow… Die Sowjets schienen alle paar Stunden eine weitere Stadt zurückzuerobern.
    Nachmittags ging er spazieren, jedesmal ein wenig weiter. Zuerst beschränkte er sich auf das College-Gelände, dann wanderte er durch die leere Stadt, und schließlich wagte er sich hinaus aufs gefrorene Land, bevor er bei Anbruch der Dunkelheit zurückkehrte, um vor der Gasheizung zu sitzen und in seinem Sherlock Holmes zu lesen. Er begann, zum Abendessen in den Speisesaal hinunterzugehen, aber als der Rektor ihm einen Platz an der großen Tafel anbot, lehnte er höflich ab. Das Essen war ebenso schlecht wie in Bletchley, aber die Umgebung war besser, das Kerzenlicht flackerte auf den Porträts in ihren schweren Rahmen und ließ die langen Tische aus polierter Eiche glänzen. Er lernte, die unverhohlen neugierigen Blicke des College-Personals zu ignorieren. Versuche, ihn in ein Gespräch zu ziehen, schnitt er mit einem Nicken ab. Einsamkeit machte ihm nichts aus. Er war zeit seines Lebens einsam gewesen. Ein Einzelkind, ein Stiefkind, ein »überdurchschnittlich begabtes« Kind - immer war da etwas gewesen, das ihn von anderen abgesondert hatte. Eine Zeitlang konnte er nicht über seine Arbeit sprechen, weil kaum jemand ihn verstanden hätte. Jetzt konnte er nicht über sie sprechen, weil sie geheim war. Es lief immer auf das gleiche hinaus.
    Gegen Ende seiner zweiten Woche hatte er sogar angefangen, nachts durchzuschlafen, eine Wohltat, die er seit mehr als zwei Jahren nicht mehr genossen hatte.
    Shark, Enigma, Kiss, Bomb, Break, Pinch, Drop, Crib - es gelang ihm, das ganze absurde Vokabular seines geheimen Lebens allmählich aus seinem Bewußtsein zu löschen. Zu seiner Verwunderung verschwamm sogar Claires Bild. Gelegentlich blitzten noch Erinnerungen auf, vor allem nachts - der Zitronenduft ihres frisch gewaschenen Haars, die großen, grauen Augen, so blaß wie Wasser, die weiche, halb belustigte, halb gelangweilte Stimme -, aber immer öfter blieben es Teile, die sich nicht mehr zusammenfügten. Das Ganze verschwand.
    Er schrieb an seine Mutter und bat sie, ihn nicht zu besuchen.
    »Krankenschwester Zeit«, hatte der Arzt gesagt und seine Tasche zuschnappen lassen, »wird dafür sorgen, daß Sie wieder gesund werden, Mister Jericho. Schwester Zeit.«
    Jetzt hatte es den Anschein, als hätte der alte Knabe recht gehabt. Er würde wieder gesund werden. »Nervöse Erschöpfung«, oder wie immer sie es nannten, war eben doch nicht dasselbe wie Wahnsinn.
    Und dann, am Freitag, dem 12. März, kamen sie ohne jede Vorwarnung, um ihn zu holen.
    Am Abend, bevor das passierte, hatte er gehört, wie sich ein älterer Lehrer über einen neuen Luftwaffenstützpunkt beklagte, den die Amerikaner östlich der Stadt bauten.
    »Ich habe gefragt, ob ihnen klar sei, daß sie auf einem Fossilienlager aus dem Pleistozän stehen, daß ich selbst an dieser Stelle die Überreste von Hörnern des Bos primigenius ausgegraben habe? Stellen Sie sich vor, der Mann hat nur gelacht…«
    Gut für die Amis, dachte Jericho und beschloß im selben Moment, daß dies ein geeignetes Ziel für seinen Nachmittagsspaziergang wäre. Weil er ihn mindestens drei Meilen weiter hinausführen würde als seine bisherigen Spaziergänge, brach er früher als gewöhnlich auf, gleich nach dem Mittagessen.
    Er ging mit kräftigen Schritten voran, an den Backs entlang, vorbei an der Wren Library und den Puderzucker-Türmchen von St. John, vorbei an den Sportplätzen, auf denen zwei Dutzend kleine Jungen in roten Hemden Fußball spielten. Dann bog er nach links in die Madingley Road ab. Zehn Minuten später befand er sich auf freiem Feld.
    Kite hatte mit trister Miene Schnee angekündigt, aber noch war es kalt und sonnig, und der Himmel war eine Pracht - eine Kuppel aus reinem Blau über der flachen Landschaft von East Anglia, meilenweit angefüllt mit silbrigen Recken von Flugzeugen und weißen Kondensstreifen. Vor dem Krieg war er fast jede Woche mit dem Fahrrad durch diese stille Landschaft gefahren und hatte dabei kaum ein Auto

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