Enigma
gesehen. Jetzt rumpelte eine endlose Kolonne von großen amerikanischen Lastwagen an ihm vorbei und zwang ihn auf den Seitenstreifen. Sie waren ungestümer, schneller, moderner als die britischen Armeelaster. Ihre Ladeflächen waren mit Tarnplanen abgedeckt, und aus den Schatten spähten die weißen Gesichter von US-Fliegern hervor. Manchmal winkten die Männer und riefen ihm etwas zu, und er winkte zurück und kam sich dabei seltsam englisch und befangen vor.
Schließlich war er in Sichtweite des neuen Stützpunkts. Er stand am Straßenrand und sah zu, wie in einiger Entfernung drei Fliegende Festungen abhoben, eine nach der anderen.
Riesige Flugzeuge, fast zu schwer, so kam es Jericho vor, um sich vom Boden zu lösen. Sie rollten über die neue Betonstartbahn, heulten auf in vergeblicher Anstrengung, krallten sich in die Luft, um hochzukommen, bis plötzlich unter ihnen ein Streifen Tageslicht erschien und sie abgehoben hatten.
Er stand fast eine halbe Stunde da, spürte, wie die Luft von den Vibrationen ihrer Triebwerke pulsierte, roch den schwachen, von der kalten Luft herbeigetragenen Geruch nach Flugtreibstoff. Er hatte noch nie eine derartige Demonstration von Stärke gesehen. Die Fossilien aus dem Pleistozän, dachte er mit grimmigem Vergnügen, waren inzwischen vermutlich zu Staub zerfallen. Wie lauteten die Worte von Cicero, die A twood so gern zitierte? Nervus belli, pecunia infinita… Die Sehnen des Krieges, unendlich viel Geld…
Er sah auf die Uhr und kam zu dem Schluß, daß er sich auf den Heimweg machen mußte, wenn er noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder im College sein wollte.
Er war ungefähr eine Meile gelaufen, als er hinter sich ein Motorengeräusch hörte. Ein Jeep überholte ihn, fuhr an den Straßenrand und hielt an. Der Fahrer, in einen dicken Mantel gehüllt, stand auf und winkte ihn heran.
»Wollen Sie mitfahren?«
»Gern. Vielen Dank.«
»Steigen Sie ein.«
Der Amerikaner wollte sich nicht unterhalten, was Jericho nur recht war. Er umklammerte die Kanten seines Sitzes und starrte geradeaus, während sie mit ziemlicher Geschwindigkeit über die dunkler werdenden Straßen und in die Stadt hinein ratterten und rumpelten. Der Fahrer setzte ihn an der Rückseite des Colleges ab, winkte, gab Gas und war verschwunden. Jericho sah ihm nach, dann drehte er sich um und ging durch das Tor.
Vor dem Krieg war diese dreihundert Meter lange Strecke um diese Tages- und Jahreszeit Jerichos Lieblingsweg gewesen: der Fußweg, der durch einen Teppich von gelben und violetten Krokussen führte, die abgetretenen Steine, die von dekorativen Lampen aus der Viktorianischen Zeit erhellt wurden, links die Türme der Chapel, rechts die Lichter des Colleges. Aber die Krokusse waren spät dran dieses Jahr, die Laternen waren seit 1939 nicht mehr eingeschaltet worden, und ein riesiger Wassertank verunstaltete den berühmten Blick auf die Chapel. Im College glomm schwach nur ein einziges Licht, und als er darauf zuging, wurde ihm allmählich klar, daß es von seinem Fenster kam.
Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Hatte er seine Schreibtischlampe nicht ausgeschaltet? Er war ganz sicher, daß er es getan hatte. Dann sah er einen Schatten, eine Bewegung, eine Gestalt in dem blaßgelben Viereck. Zwei Sekunden später wurde das Licht in seinem Schlafzimmer eingeschaltet.
Es war doch nicht möglich, oder?
Er begann zu laufen. Er legte die Strecke bis zu seiner Treppe in dreißig Sekunden zurück und rannte hinauf wie ein Spitzensportler. Seine Stiefel jagten über die ausgetretenen Stufen. »Claire?« rief er. »Claire?« Seine Tür stand offen.
»Immer mit der Ruhe, alter Junge«, sagte eine Männerstimme von drinnen. »Kein Grund zur Aufregung.«
3.
Guy Logie war ein großer, hagerer Mann, zehn Jahre älter als Jericho. Er hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt, mit dem Gesicht zur Tür; sein Nacken lag auf der einen Armlehne, von der anderen baumelten seine knochigen Beine herab, und die langen Hände hatte er über dem Bauch gefaltet. Zwischen seinen Zähnen steckte eine Pfeife, und er blies Rauchringe zur Decke empor. Aufgeblähte Heiligenscheine schwebten in die Höhe, verdrehten sich, lösten sich auf und verschmolzen zu Schwaden. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und gab ein gewalt iges Gähnen von sich, das ihn selbst zu überraschen schien.
»Du meine Güte. Tut mir leid.« Er öffnete die Augen und schwang sich in eine sitzende Position. »Hallo, Tom.«
»Bitte, bleiben Sie liegen«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher