Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Kissen zu betten. Auf Klingeln reagiert niemand. Ich schlurfe zum anderen Ende des Gangs, finde eine Schwester, die sich dann sofort kümmert, sie hatte halt nichts mitbekommen. Niemand ist umgekommen, niemand »ist schuld«. Tausendmal passiert.
Die Entlassung ist am 22. August. Mein Bauch gehört wieder mir. Nehme ich an. Die letzten Dialoge mit Professor T. sind surreal:
Ihre Nierengeschichte ist ja wahrscheinlich genetisch bedingt.
Aber ich bin doch ohne irgendwelche Nierenprobleme ins Krankenhaus gekommen?!
Sie hatten aber auch eine schlimme Divertikulitis …
Was ist das, davon war bislang noch nie die Rede?
Er bietet an, bei der Suche nach einem schicken Reha-Zentrum in Bayern behilflich zu sein. Wie im Luxushotel. Für mich ist eine Fortsetzung meiner Erlebnisse mit weißen Kitteln unter Ferienbedingungen eine schaurige Option und eine unangemessene Art der Beschwichtigung. Nein.
Am 9. September beantragt der niedergelassene Internist Dr. B. eine Wiedereingliederung nach Hamburger Modell.
Lieber Dr. B., können Sie mir eigentlich in dürren Worten sagen, was ich hatte? So schlagzeilenhaft?
Nicht wirklich.
Dr. B. ist verlegen. Nie würde er einem Kollegen Fehler, Inkompetenz nachsagen. Ein befreundeter Arzt ist deutlicher: Vermutlich eine Entzündung, die man medikamentös wegbekommen hätte … Ich will es auch nicht mehr genau wissen, denn ich habe es sehr eilig, habe Sehnsucht nach Kollegen, Inhalten und Schreibtisch. Wiedereinstieg: drei Wochen eine Arbeitszeit von 50 Prozent, zwei Wochen 75 Prozent, danach Arbeitsversuch in Vollzeit. Am 15. 9. 2011 meine erste Sendung »Monitor«.
Bei einer Fernsehdokumentation käme jetzt der Abspann:
–Gut 20000 Euro bekam die Klinik, als Fallpauschalen, etwa 7000 Euro für seine Einzelleistung Professor T.
–Weitere 13000 Euro gingen an Röntgenologen, Anästhesisten, Labore, Apotheken und Urologen.
–Ein niedergelassener Urologe in Bonn entfernte die Harnleiterschiene ohne großes Gewese. Nach einem kurzem Besuch in seiner Praxis – kein Stau mehr.
–Gewichtsverlust bis heute nicht ausgeglichen.
–Vier große Narben und das Gewebe darunter machen gelegentlich Probleme.
–Merkwürdige Starre bei Ansicht eines Krankenhauses.
Die Kämpferin
Oberärztin Dr. M. R., Chirurgin
Kritik am System – eine Sache der Männer? Dr. M. R. ist die einzige Ärztin, die mir schreibt, mit mir telefoniert. Kämpferisch, hellwach, bestimmend. Ihre ersten Mails sind knapp formuliert, unterstreichen aber, dass ich die Perspektive des Arztes, der Krankenschwester ebenfalls zu berücksichtigen habe. Sie kritisiert kühl meine Kurzsichtigkeit: Dass ich mich, wie die meisten Menschen, erst dann mit dem System Krankenhaus beschäftige, wenn ich selbst krank werde. Damit trifft sie ins Schwarze. Denn Kritik an den Defiziten im Gesundheitssystem kannte ich, kennen die meisten Menschen nur aus Artikeln oder Fernsehsendungen. Mal sorgen Statistiken über unnötige Hüftgelenk-Operationen für Schlagzeilen. Mal ist es der Organspende-Skandal, mal mangelnde staatliche Aufsicht. Mal gruselt sich die Republik vor Staphylococcus Aureus, dem Krankenhauskeim, der dem Kranken eine gefährliche Infektion bescheren kann: MRSA – inzwischen eine geläufige Vokabel.
Rund 15,4 Millionen Eingriffe wurden 2011 in deutschen Krankenhäusern vorgenommen. Dr. R. ist eine erfahrene Chirurgin, die den Stoff, der zu Statistiken gerinnt, tagtäglich mit ihren Händen bearbeitet. So gerne würde sie mich mitnehmen in diesen Mahlstrom der OP -Tische. Eine Woche lang, dann würde ich genug sehen und sammeln können. Aber externe Augenzeugen? Das bleibt Wunschdenken. Da müsste es Mitspieler geben, auch Klinikchefs, die eine hautnahe Reportage, über längere Zeit hinweg, ermöglichten. Das journalistische Anliegen, ein so komplexes System wie den Krankenhausbetrieb nachvollziehbar abzubilden, müsste begrüßt werden. Dazu müsste mein Fernsehgesicht unbekannt sein. Nun gut, Dr. R. kann sehr genau und lebendig beschreiben. Ich werde zuhören.
Ich fahre ein paar hundert Kilometer weit zu einem kommunalen Krankenhaus mittlerer Größe. Fast konspirativ ist das Treffen. Ich sitze im Eingangsbereich, unauffällig angezogen, ungeschminkt, verstecke mich unter meinem Schal und schaue zu Boden. Schnelle Schritte. Eine Frau winkt mir zu, ich folge ihr in den Oberarzt-Raum. Als Erstes sehe ich ihren Dienstplan und bin erschrocken über die vielen Stunden. Viel eigenes Leben bleibt ihr nicht.
Ihre Augen
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