Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
blitzen – trotz der langen Schicht, trotz der Arbeitsstunden, die noch vor ihr liegen. Kein Zögern unterbricht ihre Erzählung, sie weicht den Fragen nicht aus, Gefühl und Härte sind im Gleichgewicht. Dr. M. R. hat ein klares, schönes Gesicht, sie hat einen klaren, schönen Wunsch: Kranke Menschen sollen nicht mehr »Kunden« oder »Relativgewichte« sein, sondern wieder Patienten.
Alle arbeiten bis zum Anschlag, wir müssen dagegen kämpfen
Protokoll einer Ernüchterung
Meine schwärzeste Stunde erlebte ich, als einer meiner besten Kollegen rausgeschmissen wurde. Er hatte spätabends bei einer alten Dame mit schweren Durchblutungsstörungen und Geschwüren das falsche Bein amputiert. Nicht wieder gutzumachen, so ein Fehler. Aber das Bein hätte später ohnehin abgenommen werden müssen. Ihm war das am Ende eines langen Tages passiert, nach fünfzehn Jahren als Oberarzt. Er war immer ansprechbar gewesen, manchmal zwanzig Stunden am Tag. Eigentlich unglaublich, was er leistete. Ein exzellenter Arzt, ein Top-Operateur, ein charakterlich einwandfreier und guter Mensch. Doch wegen eines einzigen Fehlers gefeuert. Hatte dabei eine Rolle gespielt, dass er sich der ständigen Personalreduktion im Krankenhaus widersetzt und der Geschäftsführung immer wieder die Stirn geboten hatte?
Ich erwarte keine übertriebene Dankbarkeit der Menschen, die ich täglich in unserer Chirurgischen Notaufnahme versorge. Aber ich will fair behandelt und in meinem Beruf als Ärztin anerkannt werden. In letzter Zeit muss ich mir jedoch immer öfter anhören, dass Ärzte Schmarotzer des Systems sind. Und die schrecklich langen Wartezeiten! Als ob ich, als ob unsere Krankenschwestern nur Däumchen drehen und Kaffee trinken! »Straffen Sie die Organisation«, sagen uns die schlauen Unternehmensberater im Krankenhaus. »Geben Sie das Geld besser für Ärzte und Pflegekräfte aus statt für diese Schlaumeier«, sage ich der Geschäftsführung. Es arbeiten eben höchstens zwei Ärzte gleichzeitig in der Ambulanz, die in einer Schicht bis zu hundert Patienten versorgen müssen. Und zwischendurch bringen die Rettungsdienste uns die echten Notfälle, die Schwerverletzten. Da kommt es automatisch zu langen Wartezeiten.
Die meisten Leute wissen nicht, dass wir die Hausarztpraxis nicht ersetzen dürfen, weil wir dafür im Krankenhaus keine Zulassung haben. Wir dürfen bei Notfällen nur in den ersten 24 Stunden oder bei Einweisungen durch einen Facharzt tätig werden. Wenn wir beispielsweise eine zwei Tage alte Wunde behandeln, bekommen wir Probleme mit den Krankenkassen. Sie zahlen dann nicht und sind damit juristisch im Recht. Aber was soll ich einer alten Frau sagen, die seit Tagen Schmerzen im Bein hat und sich kaum bewegen kann? Soll sie erst zum Hausarzt gehen, der keine Zeit hat und sie gleich zum Chirurgen weiterschickt, der sie wiederum an den Radiologen verweist? Drei Termine, das schafft sie doch gar nicht mehr. Und das ganze, teils irrwitzige System versteht sie sowieso nicht. Bei uns wird sie sofort versorgt. Das kostet ihre Krankenkasse übrigens nur zirka 18 Euro. Aber wir bekommen vielleicht sogar noch Ärger mit den niedergelassenen Kollegen: Wie können Sie im Krankenhaus es wagen, uns unsere Patienten wegzunehmen?
Die Arbeit in der Chirurgischen Notaufnahme ist dennoch spannend, dort lässt sich der Tagesablauf in der Regel nicht planen. Vom genervten Geschäftsmann, der mit einer Bagatellverletzung am Finger in die Notaufnahme kommt (»Ich bin Privatpatient und möchte sofort behandelt werden!«) bis zum schwerverletzten Kind, das mit dem Hubschrauber gebracht wird und sofort im Schockraum versorgt werden muss, ist alles möglich. Wir sind hier organisatorisch, körperlich und psychisch oft sehr gefordert. Dass fast 90 Prozent unserer Patienten das Krankenhaus nach unserer Behandlung zufrieden wieder verlassen, hinterlässt ein gutes Gefühl.
Mein Arbeitstag? Ich muss 40 Kilometer zu meinem Dienstort fahren, deshalb stehe ich morgens um Viertel nach fünf auf. Um zwanzig vor sieben bin ich in der Klinik, ziehe mich um und fange an. Zurzeit betreue ich einen Studenten im Praktischen Jahr. Wir gehen morgens noch vor dem offiziellen Dienstbeginn ein Thema durch, später habe ich dazu meistens keine Zeit mehr. Um sieben Uhr gehe ich auf meine Station und mache mit zwei Assistenzärzten eine kurze Visite. Wir haben eine halbe Stunde Zeit für 25 bis 30 Patienten. Weniger als eine Minute pro Patient. Aber es geht bei uns fast
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