Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
immer nur um schnell fassbare Probleme, etwa um einen Knochenbruch, der operiert werden muss, oder um eine Nachblutung nach der Operation oder um Beschwerden, die von einer anderen Fachabteilung mitbetreut werden müssen. Um das seelische Befinden der Patienten können wir uns nicht kümmern, dafür fehlt die Zeit. Früher haben Schwestern und Pfleger das übernommen, jetzt kommen sie wegen ihrer knappen Personalbesetzung nicht mehr dazu. Personalnot bedeutet auch, dass immer weniger Ärzte in Krankenhäusern arbeiten wollen. Wir müssen sie importieren. Sie kommen zunächst für ein Jahr; viele gehen dann in ihre Heimat zurück, weil sie unter den hiesigen Bedingungen nicht arbeiten wollen. Ich kenne einige, die kaum ein Wort Deutsch konnten, als sie zu uns kamen, und es auch in dem einen Jahr nicht gelernt haben. Gut kommunizieren – wie soll das dann gehen?
Nach der Visite haben wir eine Viertelstunde, um Entlassungsbriefe zu korrigieren und zu unterschreiben, außerdem zeichnen wir die Medikamentenbestellungen ab. Briefe diktieren wir entweder im Nachtdienst oder nebenbei, wenn ein paar Minuten Zeit ist. Wenigstens haben wir Schreibkräfte, so dass ich nur ins Diktafon sprechen muss. In kleineren Häusern werden die Schreibkräfte mittlerweile eingespart, weil die Geschäftsleitung meint, dass ein Arzt den Brief selber in den PC tippen kann (»Nicht umsonst haben Sie studiert«). So kommt es zu manchmal drolligen Briefen aus Textbausteinen, damit es schneller geht.
Vieles im Krankenhaus läuft heute über Computer, was Zeit spart, wenn Rechner und Software schnell sind. Doch für neue Programme und aktuelle Hardware haben die Krankenhäuser oft kein Geld. Unser IT -Support geht übrigens um 16 Uhr nach Hause. Wenn wir, die wir die Rechner ja 24 Stunden am Tag nutzen, ein technisches Problem haben, ist das Pech. Kommt leider öfter vor. Außerdem müssen wir uns wegen des Datenschutzes alle zwei Minuten neu anmelden, wenn wir in dem gerade geöffneten Programm nicht gearbeitet haben. Wir verlieren am Tag unnötig viel Zeit nur mit diesem sinnlosen, kurz getakteten Einloggen. Zeit, die uns für andere wichtige Dinge verloren geht. Auch der Patient erlebt, wie die Bilder, die ich ihm gerade erklären will, alle zwei Minuten vom Bildschirm verschwinden …
Um 7.45 Uhr beginnt die gemeinsame Morgenbesprechung mit den anderen chirurgischen Abteilungen. Wir tauschen aus, was in der Nacht passiert ist, wie viele neue Fälle wir aufgenommen haben, und gehen die Röntgenbilder durch. Ab 8 Uhr haben wir eine Viertelstunde Besprechung, in der die Problemfälle auf Station, die Operationen und der weitere Tagesablauf kurz berichtet werden. Spätestens um 8.20 Uhr müssen wir im OP sein. Jede Minute zählt.
Auf dem OP -Plan stehen meistens vier bis sechs Operationen. Nicht selten müssen wir von diesem Plan abweichen, weil zum Beispiel ein schwerverletzter Patient dazwischenkommt, der sofort operiert werden muss. Wenn Lebensgefahr besteht und wir mehr Hände brauchen, holen wir den Chef oder die Kollegen aus der Ambulanz. So bauen wir manchmal eine zweite OP -Mannschaft auf, damit von den ursprünglich geplanten Eingriffen nicht so viele ausfallen. Im OP -Saal arbeiten wir meistens sehr konzentriert, es wird wenig gesprochen. Das dient auch der Hygiene, denn wir wollen vermeiden, dass unsere Mundkeime an den OP -Tisch gelangen.
Mit meinem Chef operiere ich gerne zusammen. Er ist ein hervorragender Operateur, von dem ich viel gelernt habe, der mal über den Tellerrand schaut und offen ist. Wenn wir Oberärzte überzeugt sind, dass es zu seinem operativen Vorgehen eine gute Alternative gibt, kann man ihm das direkt am OP -Tisch sagen, ohne große Empfindlichkeiten zu wecken. Er wägt ab und entscheidet sich manchmal für ein anderes Vorgehen – viele Wege führen nach Rom. Unter einem Chef, der Ärger macht, wenn seine Mitarbeiter andere Ideen zum Behandlungskonzept haben, würde ich nicht arbeiten wollen.
Ich bin die einzige Frau von den insgesamt vier Ober- und fünf Assistenzärzten bei uns in der Unfallchirurgie und arbeite im Wechsel in der Notaufnahme mit der unfallchirurgischen Ambulanz oder auf Station und im OP -Bereich. Früher war »Unfallchirurg« ein Männerberuf: »In unserem Fach muss man richtig stemmen«, und »das können Frauen ja nicht.« Tatsächlich haben meine männlichen Kollegen oft mehr Gefühl für das Handwerkliche, sie wurden halt so erzogen. Aber eine Frau kann auch gut operieren. Sie
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