Entfesselt
verschiedener Pflanzen, Steine, Kristalle, Öle, der Erde, des Himmels, des Wassers - alles ist überall miteinander verbunden und alles kann sowohl zum Guten als auch zum Bösen genutzt werden. Ich kam mir vor, als wäre mein Kopf bis zum Platzen vollgestopft mit Fakten, Überlieferungen, Geschichte und Tradition, Formen und Mustern und Beschwörungen und Bedeutungen - wenn ich mich übergeben würde, kämen wahrscheinlich nur Worte heraus, die sich in einem stachligen Haufen auf den Boden ergießen würden.
»Nas?«
Ich blinzelte und versuchte, ein aufmerksames Gesicht aufzusetzen, aber Anne lehnte sich zurück und legte die Karten weg. »Lasst uns eine Pause machen«, sagte sie. Sie wirkte müde. Mich zu unterrichten, war wohl nicht ihre Vorstellung von einem gelungenen Tag. Die meisten Dinge, die mich betrafen, waren nicht gerade die Höhepunkte im Leben von irgendwem; das wusste ich längst und bisher war mir das vollkommen egal gewesen. Aber in letzter Zeit, seit ich auf dem besten Weg war, ein wenig erwachsener zu werden, fühlte ich gelegentlich einen Anflug von Schuld deswegen, und es war mir sogar ein bisschen peinlich. Bisher war es mir allerdings gelungen, diese Gefühle die meiste Zeit erfolgreich abzuschütteln.
»Okay«, sagte ich und versuchte, nicht zu begeistert zu klingen. Ich warf einen Blick zum Fenster; die matte Februarsonne gab ihr Bestes, aber viel war es nicht. Es war schätzungsweise zehn Uhr und ich musste unwillkürlich daran denken, dass ich noch vor ein paar Wochen vormittags um diese Zeit Regale in MacIntyres Drugstore eingeräumt hatte. Dort arbeitete ich jedoch nicht mehr. Ich war gleich zweimal gefeuert worden.
»Ich hoffe, in der Küche gibt's noch Kaffee.« Brynne entfaltete ihren langen schlanken Körper und streckte sich. Ihre karamellfarbenen Locken wippten. Sie kam dem, was ich eine Freundin nennen konnte, am nächsten, auch wenn wir nicht verschiedener sein konnten: Sie groß und schwarz - ich klein und schneeweiß; sie Amerikanerin - ich Isländerin; sie 230 Jahre alt - ich 459; sie fröhlich, nett, selbstbewusst und fähig ... ich nichts von alldem. Außerdem hatte sie eine große liebevolle Familie und ich niemanden mehr.
»Ich denke, ich werde einen Blick auf den Arbeitsplan werfen«, sagte ich. »Und eine Weile etwas tun, für das ich meinen Kopf nicht brauche.«
»Gute Idee«, meinte Anne und lächelte mich sanft an. Sie kam herbei und rieb mir kurz über den Rücken - Anne stand auf Anfassen. Ich hatte lange geübt, nicht sofort zusammenzuzucken, und zog nur ein wenig die Schultern hoch, bis es mir gelang, mich wieder zu entspannen. »Manchmal helfen langweilige oder routinemäßige Arbeiten, das Wissen sacken zu lassen.«
Ich nickte und griff nach meiner Daunenjacke. Also, wenn Langeweile und Routine beim Lernen halfen, war ich bereits auf der Überholspur. Daisuke blieb allein im Klassenzimmer zurück, als Brynne, Reyn und ich gingen. Von allen Schülern war Daisuke meiner Einschätzung nach der am weitesten Fortgeschrittene. Er war dem ultimativen Frieden am nächsten und hatte die wenigsten offensichtlichen Macken. Aber niemand landete in River's Edge nur so aus Spaß. Ich wusste nicht, was Daisuke getan hatte, dass ihm Jahre in der Reha wie ein guter Plan erschienen, aber etwas musste es gewesen sein. So viel hatte ich in den vier Monaten gelernt, die ich nun schon hier war.
Brynne warf mir ein verschmitztes Lächeln zu und eilte vor mir und Reyn zur Tür hinaus, um uns - ganz unauffällig - etwas Zweisamkeit zu verschaffen.
Ich sah kurz zu ihm hinüber, aber sein Gesicht war - ja, ich weiß, die totale Überraschung - vollkommen ausdruckslos. Wie üblich, wenn ich in seiner Nähe war, wechselte mein Herz von einem kurzen Aussetzer sofort in den Galopp, was sich anfühlte wie Regen, der auf ein Blechdach prasselt. Ich wollte gerade etwas sagen, das mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit total albern gewesen wäre, als hinter uns etwas durchs nasse Laub raschelte. Wir drehten uns um und sahen etwas kleines Weißes auf uns zurasen: Dufa, Reyns Welpe. Sie musste auf ihn gewartet haben.
Reyn kniete sich sofort hin und sein unbekümmertes Lächeln schnürte mir die Brust zu. Dufa galoppierte tapsig und mit der typischen Entschlossenheit eines Welpen auf uns zu und stieß dabei ein paar schrille Kläffer aus - nur für den Fall, dass wir sie übersehen hatten. Sie stürzte sich auf Reyn und stellte sich auf die Hinterbeine, um
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