Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
konnte ausweichen und kam mit einem Kratzer am Arm davon. Mit dem Küchenmesser in der Hand brach ihre Mutter auf dem Sofa zusammen. Laura rief einen Arzt, begleitete ihre Mutter in die Notaufnahme der Psychiatrie, gab den Vorfall bei der Polizei zu Protokoll, verzichtete aber darauf, Anzeige zu erstatten. Sie begnügte sich damit, nach Paris zu verschwinden, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Als sie sah, wie ihr Vater diese junge Frau küsste, kam bei ihr alles wieder hoch, und sie beschloss, bei ihrer nächsten Reise nach Niort Tacheles zu reden. Sie wollte ihrer Mutter alles sagen und dafür sorgen, dass die Ehe der Eltern auseinanderging. Sie wollte ihnen einfach wehtun. Natürlich lief es nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als wir zwei Tage vor ihrem Tod zum letzten Mal miteinander telefonierten, sagte sie nur: ›Die blöde Kuh! Sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich werde nie wieder da hinfahren.‹«
Rébecca bricht in Tränen aus. Weit weg. Mindestens acht Stunden Zeitverschiebung entfernt. Dort, wo es inzwischen ebenfalls dunkel geworden ist. Rachel blickt auf ihre Uhr. Es ist Zeit, das Gespräch zu beenden.
»Vielen, vielen Dank, Rébecca. Es tut mir leid, dass Sie das alles noch einmal Revue passieren lassen mussten.«
»Ich danke Ihnen, Rachel. Ich danke Ihnen sehr.«
Die Gegensprechanlage meldet sich. Es geht weiter. Jean und die Brüder sind da.
41
Aïssa und Frédéric fahren durch die Rue Eugène-Jumin. Zwei Anrufe haben dazu geführt, dass ihre nächsten Opfer jetzt auf sie warten. Beide an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz. Kopf oder Zahl. Kopf bedeutet Sam. Niemand treibt sich in der Umgebung herum. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen. Man vertraut ihnen. Sam sitzt in einem für seine Kunden gedachten Skaisessel, raucht ein Zigarillo Café Crème und sieht im Spiegel, wie die beiden Polizisten eintreten.
»Ihr habt ja nicht lange gebraucht.«
Aïssa kann so viel Dummheit und blindes Vertrauen kaum fassen. Genau wie Sams Kumpel, der Trödelhändler, es den Gebrüdern Meyer entgegengebracht hat. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als dieses allzu schlaue Lächeln und diese ruhige Selbstsicherheit endlich erlöschen zu sehen.
»Stimmt. Und weil wir müde sind, machen wir schnell. Keine Sorge, du wirst nicht leiden.«
Sam macht Anstalten, die Hand nach einer Schublade auszustrecken. Auf der Suche nach etwas, womit er sich verteidigen kann.
»Keine Bewegung. Und nicht umdrehen. Keine Widerrede. Ich erledige es ganz sauber. Direkt in den Nacken. Du wirst gar nichts spüren. Und ich bin froh, das Viertel endlich von deinem dämlichen Gequatsche befreien zu können. Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas zum Wohle der Allgemeinheit tue. Und weil ich dein selbstzufriedenes Geschwätz so lange ertragen musste, habe ich mir geschworen, dir vor deiner Liquidierung eine kleine Rede zu halten. Gerade so lang, dass du verstehst, wie grässlich das immer war. Aber ich will dir auch nicht vorenthalten, dass ich ein Mittel gefunden habe, dich zu ertragen, dir trotzdem zuzuhören und so zu tun, als hielte ich dich für intelligent: Ich habe mir während deines Geschwafels immer vorgestellt, wie ich dich wohl umbringen könnte. Und neulich beim Couscous kam mir die Idee zu diesem ganz einfachen Tod, den ich dir gönne. Eine Kugel in den Nacken. Nur eine Kugel in den Nacken. Merkst du, wie es einem auf den Geist gehen kann, Geschwätz zu ertragen, das man nicht hören will? Also, ich höre jetzt auf damit, es langweilt mich selbst schon. Ich werde dir nicht mal mehr erzählen, auf welche Weise wir Haqiqi umlegen werden, sobald wir hier fertig sind.«
Enkell steht reglos an der Eingangstür und zielt auf den Frisör, während Benamer den Schalldämpfer auf seine Beretta schraubt. Sam klammert sich an seinen Stuhl. Er schwitzt stark und murmelt unverständliche Worte. Als der Schalldämpfer richtig sitzt, tritt Benamer näher und lauscht genauer.
»Nicht zu fassen. Du betest? Dann bist du also doch gläubiger, als du immer behauptet hast.«
Er hält den Lauf im Fünfundvierzig-Grad-Winkel an Sams Nacken, wartet kurz und lauscht den immer wiederkehrenden Worten, die der Frisör vor sich hin murmelt.
Schma Israel, A-donaj E-lohejnu, A-donaj Echad.
Baruch schem kwod malchuto leolam waed.
Plopp.
Nachdenklich schraubt Benamer den Schalldämpfer wieder ab und dreht sich zu Enkell um.
»Man merkt immer erst im letzten Moment, ob jemand wirklich ein Mann ist. Und er war wirklich gläubig,
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